WEIN AUS CHILE
Chile ist ein Land der großen Gegensätze. Es misst in der Länge rund 4.200 Kilometer, in der Breite aber höchstens 200. Es wird vom Pazifik stark beeinflusst wie auch von den Anden, die es von Bolivien und vor allem von Argentinien trennen. Die Oberschicht der Bevölkerung ist meist weiß, andere Teile sind eine Mischung aus unterschiedlichen indigenen Gruppen und Einwanderern. Schaut man sich die Liste der schwersten Erdbeben an, dann liegt Chile auf den Plätzen eins, sechs, elf und 14. Die ersten Weinreben kamen 1548 in der Stadt Concepción an, die ein Jesuitenpater namens Francisco de Carabantes aus Peru mitgebracht hatte. Von Chile aus gelangten dann weitere Reben drei Jahre später nach Argentinien. In Chile gibt es mit rund 138.000 Hektar etwas mehr Weinbau als in Deutschland. Doch er unterscheidet sich fundamental.
DER OPEL SENATOR UNTER DEN WEINBAULÄNDERN
Die Entwicklung Chiles als Weinbauland ist typisch für Südamerika. Sie ist begründet in der Eroberung des Kontinents durch die Spanier und der damit einhergehenden weitgehenden Ausrottung oder Christianisierung verschiedener indigener Völker, allen voran der Inka und Aymara. Während der Christianisierung wurden Kirchen gebaut und auch Wein angepflanzt. Es war die spanische Sorte Listán Prieto, in Chile País, in Argentinien Criolla Grande und sonst auch Missionsrebe genannt, die sich in Chile schnell verbreitete. Bald stellte sich heraus, dass Chile eines der am meisten gesegneten Weinbauländer der Erde ist. François Lurton aus der Bordelaiser Wein-Dynastie, der zu den frühen Investoren in Chile gehört, sagte einmal: „Wenn ich eine Weinrebe wäre und mir den Ort aussuchen könnte, an dem ich gepflanzt werden wollte, würde ich Chile wählen.“ Der Einfluss des Pazifiks und der Anden zusammen mit den unterschiedlichen Böden sowie den von den Inkas geschaffen Bewässerungssystemen sorgten für ideale Voraussetzungen. Chile wurde zum Massenerzeuger von Wein. País wurde literweise getrunken – aber immer als leichter heller Viño Pipieño. Der Weinbau veränderte sich dann Mitte des 19. Jahrhunderts. Damals kamen viele Einwanderer nach Chile, zum Beispiel Deutsche nach den politischen Umwälzungen von 1848. Aber es kamen auch viele Italiener, Briten, Iren, Franzosen, Juden und Palästinenser. Winzer wie etwa Bertrand Silvestre Ochagavia Echazareta brachten Reben aus Bordeaux nach Chile. Das waren noch wurzelechte Reben, und sie kamen zum rechten Zeitpunkt kurz vor der Reblauskatastrophe in Europa. In Chile dagegen hat die Reblaus nie Fuß gefasst, und zwar bis heute nicht. Was es allerdings gab, war die Prohibition, die sich ähnlich verheerend ausgewirkt hat wie in den USA. Sie dauerte von 1938 bis 1974, und danach war der Weinbau nahezu ausgestorben. Die Wende kam mit Miguel Torres, der 1979 in Curicó sein erstes Weingut in Südamerika errichtete. Er brachte Know-how mit und zeigte der Weinwelt das Potential Chiles. Es dauerte nicht lange, bis andere folgten. Dazu gehörten die Domaines Barons de Rothschild mit Los Vascos, Robert Mondavi oder die Familie Marnier Lapostolle. Gleichzeitig investierten reiche chilenische Familien, und es entstanden die Firmen Concha y Toro, De Martino, Cono Sur, Montes, Felipe Edwards oder Errazuriz. Manchen von ihnen gab es auch schon im 19. Jahrhundert, und nun wurden sie wieder aufgebaut. Was entstand, war eine Wine Industry mit Weingütern, die über zighunderte Hektar verfügten und viele blitzsaubere Weine erzeugten. Chiles Wein hat sich ab den 1980er Jahren sehr schnell zum Exportschlager entwickelt mit seinen sauberen, aber oft auch austauschbaren und vor allem günstigen Weinen. Während Anfang der 1980er die País noch 44 % der Reben in den Weingärten ausmachte und der Chilene im Durchschnitt noch rund 44 Liter Wein im Jahr trank, hat sich das deutlich verändert. Heute liegt die Sorte auf Rang acht bei nicht einmal 4.000 Hektar, und der Chile trinkt eher Bier als Wein. So hat Chile die Weinwelt zwar deutlich mit verändert, aber interessant war das, was dort passierte, nur bedingt.
„WIR GREIFEN NACH DEN STERNEN“
Aus dem, was war, wächst allerdings gerade etwas ganz Neues. Kaum irgendwo sonst gibt es so viele junge Winzerinnen und Winzer, Önologen und Weinmacher wie in Chile. Es gibt nach der Aufbruchstimmung der 1980er, die eher aus dem oberen Teil der Bevölkerung kam, nun einen Aufbruch aus der Mitte. Und damit verändert sich natürlich auch der Wein. Was man bisher vor allem kannte, waren sortenreine Weine, und zwar vor allem Cabernet Sauvignon, Carmémère, Merlot, Syrah, Chardonnay, Sauvignon Blanc usw. Manche dafür geeigneten Täler in den Vorgebirgen der Anden haben sich auch einen besonders guten Namen erworben, Colchagua zum Beispiel oder Maule, Aconcagua und Casablanca, Maipó und Curicó. Mittlerweile werden aus reinen Gebietsweinen immer mehr Terroirweine, die mit einem spezifischen sense of place, einem besonderen Ort, verbunden sind. Diese aus Frankreich stammende Idee spielt in Übersee oft noch eine sehr untergeordnete Rolle. Das war auch in Chile der Fall, aber es ändert sich; denn die chilenischen Erzeuger beschäftigen sich immer stärker mit ihren Böden und den Kleinklimata. Früher haben die meisten Erzeuger ihre Weinberge einfach dort angelegt, wo man ohne Probleme hohe Erträge mechanisch bewirtschaften konnte und schnell in die Hauptstadt Santiagio de Chile kam. Verkehrsverbindungen waren wichtiger als Bodenqualität; denn die war fast überall zumindest gut. Heute suchen Winzer immer mehr nach Höhenlagen und graben Calicatas, um zu sehen, was sie im Boden erwartet. Dabei spielt auch die Nachhaltigkeit eine immer größere Rolle. Als Land an der Küste hat Chile in hohem Maße mit den Auswirkungen des Klimawandels zu kämpfen. Wo es früher nur wenig zertifiziert biologischen und nachhaltigen Weinbau gab, ändert sich auch das. Wie schreibt es Master of Wine Tim Atkin in seinem jährlichen ausführlichen Report? „Die besten chilenischen Winzer haben es derzeit sehr eilig und sind bestrebt, den jahrelangen Stillstand und das Image des Landes als zuverlässiges, preiswertes Land hinter sich zu lassen, wie Andrés Sanchez von Gillmore mir sagte: ,Wir greifen nach den Sternen. Nicht jeder versteht, was wir tun, aber das wird uns nicht aufhalten‘.“
WEINBAU AM LIMIT
Ein Großteil des Weinbaus findet immer noch zwischen Santiago de Chile und den Anden statt. Doch ein weiterer Teil hat sich immer weiter nach Norden und nach Süden ausgedehnt. In diesem dünnen langen Streifen von 4.360 Kilometern Länge und im Schnitt 185 Kilometern Breite findet sich mittlerweile an vielen Stellen Weinbau, zum einen in immer größerer Nähe zum Pazifik, um mehr frische Weißweine zu erzeugen - dazu gehört das Valle Sur mit –> Bío-Bío und Itata -, zum anderen hoch im Norden an der Atacama-Wüste rund um Iquique sowie ca. 3.800 Kilometer südlich in Chile Chico, dem chilenischen Teil von –> Patagonien. Das einzige Land, in dem Weinberge noch weiter voneinander entfernt liegen können, ist Australien. Der Weinbau in Chile Chico ist ganz sicher Extremweinbau; denn das Keóken Projekt des Instituto de Investigaciones Agropecuarias (INIA) in der Nähe des General-Carrera-Sees in Chile Chico liegt auf 46,32° südlicher Breite und damit am südlichsten von allen Weinbaugebieten weltweit. In Iquique entsteht der Vino del Desierto aus der heimischen Rebsorte Tamarugal am Rande der Atacama-Wüste. Auch das ist derzeit noch ein eher akademischer Weinbau, der von der Universidad Arturo Prat (UNAP) ins Leben gerufen wurde. Das dritte Extremum findet sich in den Parzellen von Viñedos de Alcohuaz auf 2.208 Metern im oberen Teil des Elquí-Tals.
ZURÜCK ZUR PAÍS
Der eigentliche Paradigmenwechsel in Chile aber ist die Rückbesinnung auf alte Sorten. Jahrzehntelang wurde die País aus den Böden gerissen und durch Cabernet und andere französische Rebsorten ersetzt. Big, bold and fruity sollte es sein. Aber in den letzten Jahren wird es deutlich diverser. Immerhin werden mittlerweile knapp 80 unterschiedliche Rebsorten kultiviert. Der internationale Geschmack in der gehobenen Gastronomie hat sich gleichfalls geändert. Und es gibt mittlerweile den Naturwein, der eine ganz andere Stilistik fördert. Es ist übrigens eine, die mit der País und anderen alten Sorten hervorragend funktioniert. Aus ihr entsteht vor allem in Itata der klassische Viño Pipeño, der einfache Tischwein der Chilenen. Natürlich ist das Niveau heute ein anderes als vor 40 Jahren. Aber vom Stil her sind es leichte Weine, die farblich oft eher an Claret, also an einen kräftigen Rosé erinnern. Die Winzer, die sich der Sorte widmen, sind meist auch gleichzeitig Landschaftspfleger; denn sie retten oftmals uralte Weingärten. Das neue Chile hat natürlich noch einiges andere für sich entdeckt. Dazu gehört die Güte, die der Pinot Noir und der Carignan in Chile erreichen können. Immer mehr Winzer gehen zudem weg vom neuen Holz und nutzen alte Gebinde, Ton oder Zement, experimentieren mit Kohlensäuremaischegärung, mit verlängerten Standzeiten bei Weißweinen und erzeugen immer bessere Schaumweine. Man kann heute durchaus sagen, dass Chile ein brodelnder Kessel ist, von dem noch viel erwartet werden kann.