
Root-Time bei den Oggaus
8:30 London Heathrow, natürlich Regen, Passkontrolle.
„What are you guys doing in the UK?“
„We are going for lunch!“
„Yeah, right!“ Lachen. Stempel. Willkommen im Königreich. Crazy Germans.
Noch nie war es so umständlich, einzureisen. Und noch nie so lohnend. Dank Legenden der Kochkunst wie Nigel Slater, Marco Pierre White oder nose-to-tail Pionier Fergus Henderson steht die englische Gastrokultur heute an der Weltspitze.
London hat einen festen Platz in unserem Herzen als kulinarisches Reiseziel und vinophiler Sehnsuchtsort. Dieses Mal gibt es einen konkreten Anlass für unsere Reise. Ein Artikel in der New York Times über Hugh Corcoran und sein neues Restaurant The Yellow Bittern flatterte ins Haus und schon war unsere Aufmerksamkeit erwacht. Cash only, Reservierungen nur per Telefon oder Postkarte, nur Lunch. Kein Social Media, keine Website. Es gibt mittags zwei Slots, um 12 und um 2 Uhr. Auf wundervolle Weise gleichzeitig modern wie anachronistisch, beschwört dasd Lokal eine Zeit herauf, die es so nie gegeben hat.
Der Koch
In Belfast geboren, verdiente Hugh Corcoran sich im Baskenland seine Sporen. Während seiner Zeit in Paris lernte er seinen Freund und Geschäftspartner Oisín Davies kennen. Gemeinsam mit ihm und seiner Partnerin Frances Armstrong-Jones eröffnete er im Oktober 2024 das Restaurant. Meinungsstark und streitbar sorgte er in kurzer Zeit für Aufsehen in der ohnehin lebendigen Londoner Restaurantszene, inklusive Shitstorm. Die Kritiker arbeiteten sich an ihm ab, er sich an ihnen und an den Gästen. Oft geht es in den Kolumnen nicht vorrangig um die Qualität der angebotenen Speisen. Besonders seine Aussage, Gäste würden zu wenig konsumieren und Restauranttische seien keine öffentlichen Bänke, wurde heiß diskutiert. Gäste sollten mindestens Vorspeise und Hauptgericht bestellen, Wein dazu sei obligatorisch. Und lange, alkoholgeschwängerte Mittagessen seien wichtig und ein Menschenrecht. So der kommunistisch angehauchte Patron.
Da hat jemand seine Vision umgesetzt und zieht sie durch. Mit viel Gegenwind und Ausdauer. Wir waren, gelinde gesagt, stark interessiert. Also, ab nach London und sich selbst ein Bild machen. Nach einem kurzen Telefonat haben wir einen Tisch um 2. So viel sei vorweggenommen: Es war ein sehr inspirierender Trip.
Excellence in wine
Die Vielfalt und Exzellenz im Wein wird vielleicht noch in New York so abgebildet. Aber in London ist sie einzigartig. Wir nutzen die Gelegenheit für Storechecks. Erster Halt ist Hedonism Wines in Mayfair. Mit seiner exzellenten umfassenden Weinauswahl passt der Laden perfekt in den noblen Stadtteil. Zwischen Burgundern für fünfstellige Preise und uralten Sauternes für die etikettenaffine Klientel finden sich einige Labels aus unserem Sortiment. Das freut natürlich besonders. Vor allem die Südafrikaner sind mit Weinen von Mullineux, Crystallum, Eben Sadie und Restless River stark vertreten. Aber auch die ein oder andere Flasche von Filipa Pato, Bussaco und Bodega Noemia findet sich. Auf dem Plattenspieler im Keller dreht sich Miles Davies Meisterwerk Kind of Blue. Wir fühlen uns fast erschlagen von der Angebotsfülle und fragen uns beim Verlassen, wer hier wohl einkauft.
Nächster Halt ist Holborn im West End. Unser Ziel liegt in der Lambs Conduit Street. Eingeweihte ahnen schon, wo es uns hinführt: Shrine to the Vine. Das Ladengeschäft der Noble Rot Gründer Mark Andrew und Dan Keeling. Ihr Magazin gehört zum Bestgeschriebenen, was es über Wein zu lesen gibt. Ihre Weinbars zu den besten Londons, wenn nicht gar der Welt. Auch hier finden sich Labels aus unserem Sortiment, unter anderem wieder Filipa Patos Nossa Calcario Baga oder Arnaud-Lambert aus Saumur. Das Sortiment ist kuratierter, kleiner und spezieller als bei Hedonism. Dadurch mit schärferem Profil und klarerer Ansprache. Weniger kann mehr sein.
Der Weg ist das Ziel
Jetzt gegen Mittag klebt unsere Zunge am vom Großstadt Staub ausgetrockneten Gaumen. Wo wir schon hier sind, gehen wir schräg gegenüber in die zugehörige Weinbar. Das gebrachte kalte Vichy Catalan schmeckt wie Göttersaft. Nie war Mineralwasser so köstlich. Spontan entschließen wir uns, bereits hier einen Aperitif zu nehmen und bestellen eine Flasche English Sparkling. Auf Empfehlung einen late disgorged Blanc de Blancs von Langham aus Dorset. Die Kalkböden hier sind dieselben wie in der Champagne. Der Stoff braucht sich nicht verstecken. Im Gegenteil, das ist großes Schaumweinkino. Klimawandel und exzellentes Winemaking machen es möglich.
Die umfangreiche Weinkarte ist speziell und exzellent. Viel Bekanntes, noch mehr Unbekanntes. Wir widerstehen der Versuchung, uns durch die großartige By-the-Glass-Auswahl durchzuprobieren. Schließlich haben wir noch was vor. Als wir dem Restaurant Manager von unserem geplanten Lunch im The Yellow Bittern erzählen, fangen seine Augen an zu leuchten. Sie hätten vor kurzem dort ein bereits legendäres Staff-Event gehabt. Auf unsere Frage, ob es auf dem Weg einen guten Pub gäbe, empfiehlt er uns The Lamb. Wir hoffen auf maximal 100 Meter Distanz. Mehr geht nicht. Der Magen hängt in den Kniekehlen. Es sind dann doch 150 Yards zum rettenden Stützbier. Der restliche Fußweg zum Restaurant ist danach ein Leichtes.
The Yellow Bittern
Wir erinnern uns gerade noch rechtzeitig an die Cash-only-Policy und besorgen Bargeld an der Cash Machine. An der Tür des Restaurants befindet sich eine Klingel, Frances Armstrong-Jones öffnet, nimmt uns die Mäntel ab und platziert uns. Auf den weißen Tischdecken stehen frische Blumen, Pfeffer, Salz und Senftöpfe von Colemans. Ankommen, durchatmen, wir versuchen den Raum zu erfassen. An den Kanarienvogelgelb gestrichenen Wänden hängt Kunst, auch ein Portrait von Lenin. Sieben Tische mit 18 Plätzen, heute Mittag ist vielleicht die Hälfte besetzt. Wie wir im Laufe des Lunchs herausfinden, gehört ein Teil der Gäste zur Noble Rot Mannschaft. Ein kurzer Blick ins nicht ganz DSGVO-konforme offenliegende Reservierungsbuch zeigt, dass es die Ausnahme einer sonst sehr guten Buchungslage ist.
Hugh Corcoran zieht die umherwandernden Blicke immer wieder auf sich. Wie aus einem Charles Dickens Roman entsprungen steht er neben seinem Mitinhaber Oisìn Davies hinter dem hölzernen Tresen in der handtuchgroßen offenen Küche mit Fenster zum Innenhof. Gläser polierend, Teller anrichtend oder mit einem Topf beschäftigt. Hinter ihm an der Wand eine große Guinness-Uhr. Sichtlich benutzte Kochbücher stapeln sich auf dem Geschirrregal. Auf dem Tresen sind die Speisen des Tages drapiert. Davor auf einem Beistelltisch eine beeindruckende Auswahl irischer Käse. Das übersichtliche Menü steht auf einer Tafel über unseren Köpfen an der Wand. Die simpel gehaltenen Gerichte wecken unsere Neugier.
Lunch als Ritual
Zu trinken gibt es lediglich Wasser, Wein und Schnaps. Dass ersteres ein bekanntes aus Italien ist, irritiert. Eine Weinkarte gibt es nicht. Stattdessen teilen wir Corcoran mit, was wir gerne hätten, sowie eine Preisrange. Ein frischer Weißwein soll es sein. Wenig später kommt er mit mehreren Flaschen im Arm aus dem Keller wieder nach oben. Wir kennen keine und entscheiden uns für eine Cuvée aus Chardonnay, Jacquère und Mondeuse aus Savoyen. Die sehr gut temperierte Flasche steht ohne Kühler auf dem Tisch. Es gibt nur eine Sorte Weinglas. Mit dem ungewöhnlich kurzen Stiel erinnert es an Wassergläser in schicken Hotels. Da es hochwertig verarbeitet und dünnwandig ist, passt es dennoch hervorragend.
Wir werden beiläufig auf die Karte an der Wand hingewiesen. Es gibt noch einen Chicken Pie außerhalb als Empfehlung. Für zwei zum Teilen. Nehmen wir, dazu Lammschulter. Wir erspähen in der Küche die Karkassen von Königskrabben. Auf der Karte steht schlicht Crab Salad.
Los geht es mit fantastischem Soda Bread und Radieschen mit Butter und Salz. Eine Kombination, die in ihrer Einfachheit dank der hervorragenden Produkte so ungewöhnlich wie gut ist. Der Crab Salad kommt nur mit Mayonnaise. Die ist wunderbar luftig, mit der richtigen Menge Zitrone auf den Punkt abgeschmeckt. Der Weißwein harmoniert perfekt und ist mit dem letzten Bissen Krabbensalat leer. Der Service ist ruhig und diskret. Frances Armstrong-Jones schwebt lächelnd durch den Raum. Man bemerkt sie kaum, trotzdem ist sie in den richtigen Momenten immer zur Stelle.
Nach der Vorspeise bekommen wir einen Elsässer Riesling serviert, der uns als „Palate Cleanser“ annonciert wird. Statt eines klassischen Zitronensorbets. Mit seiner elektrisierenden Säure und frischen Zitrusfrucht füllt der Stoff die Rolle bravourös aus.
Zum Hauptgang Rotwein. Corcoran zieht aus seinem Keller eine Flasche 2016 Sassella “Rocce Rosse” Riserva. Von ArPepe, einem der traditionellsten Produzenten aus dem Valtellina. Für Londoner Verhältnisse überraschend günstig kalkuliert. Corcoran bringt frische Gläser, dasselbe kleine Modell. Zu Beginn ist der Wein sehr verschlossen, Karaffieren täte dem Wein sicherlich gut. Mit etwas Zeit und Luft beginnt er sich aber auch so in den zugegebenermaßen zu kleinen Gläsern zu öffnen.
Der beste Chicken Pie der Stadt?
Zwischen Vorspeise und Hauptgang zieht es uns kurz in den Keller. Oisìn backt nicht nur das Brot und die Kuchen, sondern ist auch verantwortlich für die Auswahl des kleinen Buchhandels, der sich hier befindet. Eine schillernde Mischung aus irischer Dichtung, Kunst, und Mode. Im Gastraum merkt man nicht wie die Zeit verstreicht, doch hier unten steht sie still.
Die Hauptgänge sind da. Auf einem Bett aus im eigenen Saft schwimmenden Gemüse stapeln sich zwei Dicke Scheiben gerollte Lammschulter. Das erstklassige Fleisch ist butterzart, der geschmacksgebende Fettanteil wurde erfreulicherweise nicht entfernt. Der Eigengeschmack des Lamms ist präsent, aber fein. Der offene Topf Colemans Mustard hat jetzt seinen Auftritt. Corcorans wahre Klasse als Koch zeigt sich beim Gemüse. Trotz offenbar langem Schmoren im eigenen Saft, hat es noch Biss und ist voller Geschmack. In dieser Intensität erleben wir das selten. Besonders die im ganzen gegarten Frühlingszwiebeln explodieren mit ihrer Süße und Saftigkeit förmlich im Mund.
Der Star des Tages ist für uns der Chicken Pie. Unter der perfekten Blätterteigkruste mit dem richtigen Verhältnis aus Knusprigkeit und Fluffigkeit, verbirgt sich auf den Punkt gegartes Huhn. Auch hier wird offensichtlich mit einem Spitzenproduzenten gearbeitet. Und wieder ist es das Gemüse, das die Show stiehlt.
Mit seinem fruchtbetonten Aroma nach roten Beeren und für gereiften Chiavennasca typischer Speckigkeit ist unser Wein ein großartiger Begleiter sowohl zum Lamm als auch zum Chicken Pie. Ein toller Repräsentant dieser Region. Ein Teil des Gemüses kommt aus Corcorans eigenem Garten. Die Produktqualität ist durchweg exzellent. Er erzählt, dass es ihm leid tue, uns heute keine irischen Felsenaustern anbieten zu können. Den Lieferanten hätte er heute morgen mit seiner minderwertigen Ware wieder wegschicken müssen.
Ungeteilter Käse
Ob wir etwas Käse möchten, werden wir gefragt, während der Tisch abgeräumt wird. Wir bejahen und kurz darauf steht ein Teller mit verschiedensten Sorten vor uns. Alle bei Raumtemperatur und auf den Punkt reif. Auf unsere Frage, ob der Käse aus Nordirland käme, bekommen wir die Antwort, es gäbe nur ein Irland. Aber ja, ein Teil der Käse kommt vom nördlichen Teil der Insel. Wieder sind wir von der exzellenten unpasteurisierten Produktqualität schier überwältigt. Einen Süßwein wie Port, Maury oder Banyuls hat Corcoran gerade nicht im Keller. Seinen Ansprüchen genügende Qualitäten gäbe es nur auf Zuteilung und seine hätte er bereits verkauft oder selbst getrunken. Aber er hat noch etwas anderes, das er uns anbieten könnte. Von einem Erzeuger aus Andalusien. 100% Garnacha. Er würde nicht schlau aus der Flasche werden. Der Vorgängerjahrgang sei ein exzellenter Foodwein gewesen. Mit der aktuellen Abfüllung ist etwas passiert.
Im Glas ist ein rotschwarzer, undurchsichtiger Stoff. Vom Geruch irgendwo zwischen Port und Banyuls. Am Gaumen Süße. Viele Gerbstoffe und jede Menge Alkohol. Ein Blick aufs Etikett verrät 17,5vol%! Ohne Aufspriten. Ungewöhnlich. Zum Käse funktionierts famos. Wir kommen immer mehr ins Gespräch über Wein, Produktqualitäten, Wetter. Noch ein Stück Rhabarber Tarte? Gerne. Mit einem großzügigen Klecks Crème Double. Dazu werden wir auf eine Vieille Prune eingeladen. Aus der Magnum in unvernünftig großen Gläsern serviert. Ein Blick auf die Uhr reißt uns zurück in die Gegenwart. Draußen vor der Tür reiben wir uns ungläubig die Augen. Was ist hier gerade passiert? Die Zeit verging wie im Flug. Dank einzigartiger Atmosphäre, Top-Gastgebern und exzellenter Küche sind wir regelrecht abgetaucht. Unten in der Tube versuchen wir, das Erlebte einzuordnen. Beim Security Check hat uns die Realität wieder. Unsere Pässe müssen wir nur beim Einsteigen vorzeigen.
Fazit
London ist voll von sehr guten Restaurants und Spitzenköchen. Hier herauszustechen ist eine Kunst. Das gelingt The Yellow Bittern auf vielfältige Weise. Schuf sich Hugh Corcoran zu Beginn meinungsstark mediale Aufmerksamkeit, macht er nun vor allem durch richtig gutes Essen von sich reden.
Die Gerichte sind Klassiker der irischen und englischen Küche. Denen man den Einfluss seiner baskischen und französischen Lehrjahre anmerkt. Die Produktqualität ist auf Sterneniveau. Sein Weinkeller absolut zeitgemäß. Eine aufregende Mischung aus etablierten Produzenten und Newcomern der Naturweinszene.
Hier ist ein Besessener am Werk. Im positivsten Sinne. Besessen von der Idee, den bestmöglichen Lunch Spot anzubieten. Die Küche verbindet exzellente Produktqualität mit erstklassigem Handwerk. Der Weinkeller scheint sorgfältig kuratiert und gut bestückt zu sein. Man merkt an jeder Ecke die Leidenschaft. Dass die Servietten aus Papier sind und das Wasser aus Italien wird zur Nebensache.
The Yellow Bittern ist mehr als ein Restaurant. Es ist ein Statement. Und der wohl entschleunigtste Lunch der Stadt. Vor dem nächsten London Trip schicken wir rechtzeitig eine Postkarte. Und buchen den Rückflug erst für den darauffolgenden Tag. Denn der Lunch geht hier auch manchmal bis 9 Uhr Abends, wie uns der Manager vom Noble Rot warnte. Die Cash Machines arbeiten auch nachts noch.
Jonathan Pflughaupt