Allgemein

Die Influencer-Influenza

Pilze, Parasiten & Pixelkönige

Das Internet und Mutter Natur haben ungefähr so viel gemeinsam, wie der Jakobsweg und die Reeperbahn. Und doch teilen die konträren Kulturlandschaften eines: Beide bringen in regelmäßigem Abstand neue Arten hervor. Mikroorganismen, die sich langsam, aber sicher ausbreiten. Gattungen, die plötzlich auf der Bildoberfläche erscheinen und die Nahrungskette kurzerhand um ein Mitglied erweitern. Lebewesen, die dem Spiel der Mächte neuen Schwung verleihen.

Was der Silberwangen-Ameisenwürger für die Trockengebiete der Caatinga im Nordosten Brasiliens ist, sind für das Biotop Internet sogenannte Influencer. Eine ulkige Spezies. Putzige Internetbewohner, die eigentlich nichts Böses im Schilde führen, doch die Massen spalten. Der eine hält die Neuzeit-Meinungsbildner für Parasiten, die sich von billigem Dopamin ernähren, dem Fast-Food unter den Botenstoffen. Für andere hingegen sind Influencer die neuen Könige des digitalen Dschungels.

Liebe, Lob & Like-Drama

Während wir uns alle darüber einig sind, dass Wein ein wunderbares Gesöff ist, herrscht hinsichtlich der vinophilen Influencerei keinerlei Konsens. Ganz im Gegenteil. Den Begriff plagt ein schwindelerregend ambivalentes Dasein zwischen großer Verehrung und militanter Ablehnung. Sprechen wir hier von intrinsisch motivierter Bildungsarbeit oder nervtötender Besserwisserei, die uns der Algorithmus ungefragt in die Timeline spült? Womit haben wir es wirklich zu tun? Gut gemeinter Inspiration oder monetär motivierter Manipulation? Sind Influencer in Zeiten ausblendbarer Like-Zahlen mediale Mogelpackungen oder versteckte Reichweiten-Booster für Rebensaft-Dealer, Weingüter und Regionalverbände? Wie erstrebenswert ist das Doppelleben zwischen gehasster Internetspezies und digitalem Mannequin auf dem Social-Media-Catwalk wirklich?

Dass wir mehr Nachwuchshandwerker und Future-Pflegekräfte als fleischgewordene Litfaßsäulen brauchen, die WhatsApp-Moni und Karsten, Vertriebsleiter bei einem Jalousien-Hersteller auf der schwäbischen Alb, leicht aufgesetzt erklären, wie man Moët & Chandon richtig ausspricht oder Sekt degorgiert wird, sollte klar sein. Nichtsdestotrotz lässt sich diesem neu erblühten Berufszweig das Existenzrecht nicht gänzlich absprechen. Immerhin belief sich der weltweite Umsatz im Influencer-Marketing 2024 laut einer Quelle, die ich im Laufe der Arbeiten an diesem Text schon wieder vergessen habe, auf ungefähr 20 Milliarden US-Dollar und wird bis 2032 voraussichtlich auf 70 Milliarden US-Dollar steigen.

Stellt sich nur die alles entscheidende Frage, ob sich das Prinzip, das für die Beauty-Branche, den Food-Kosmos, die Gaming-Szene und den vollgeschwitzten Fitness-Bereich scheinbar ganz wunderbar funktioniert, auch auf die Weinwelt münzen lässt. Der Kuchen ist groß, doch was springt für unsere geliebte Kultur aus der Torte?

 

Vom Parker-Kanon zur Meme-Symphonie

Am Ende des Tages sind Influencer nichts als evolutionstheoretisch durchdeklinierte, vermeintlich emanzipierte Testimonials. Unabhängige Markenbotschafter, autonome Werbefiguren, freischaffende Maskottchen, die nicht mehr gecastet werden, um sich anschließend irgendeine vorgekaute, von Gänsefüßchen flankierte Folklore in den Mund legen zu lassen, sondern wie freie Dienstleister und Produkttester auftreten. Mit eigenen Worten. Und eigener Aufmachung. Auf dem eigenen Kanal. Adressiert an die eigene Community, die bestenfalls Schnittmengen mit der designierten Zielgruppe des Auftragsgebers hat. In Kombination mit dem Aufkommen unabhängiger Plattformen wie YouTube, TikTok und Instagram ist dadurch eine neue Spezies an reichweitenstarken Werbeträgern erblüht, die Litfaßsäulen, Flugblättern und Werbespots den Rang abläuft und das einstige Meinungsmonopol ganz zum Unmut der bisherigen Deutungshoheiten demokratisiert. Das gilt auch für die Weinbranche. Wo es früher einen von Robert Parker, James Suckling, Tim Atkin und Jancis Robinson gesungenen Kanon gab, herrscht heute ein vieltöniges Stimmengewirr. Hier muss nicht direkt von einer neuen Weltordnung schwadroniert werden, doch zumindest lässt sich im Ansatz ein neuer Zeitgeist erkennen, der sich besonders online bemerkbar macht.

Zu Beginn noch unabhängige Meinungsmacher sind viele Influencer im Laufe der Zeit zu kaufbaren Werbeträgern mutiert, die sich einfach buchen lassen wie Plakatflächen, um im Anschluss lieblos gekünstelt Wegwerfartikel und Nonsensprodukte zu lobbyieren, die niemand wirklich braucht. Und genau das ist die Krux. Hier sollten wir dringend zwischen zwei Influencer-Typen unterscheiden. Auf der einen Seite gibt es die willenlosen Marionetten, komplett käuflich, wie Outfits von der Stange, auf der anderen Seite haben wir Menschen, die einen wirklichen Mehrwert schaffen. Aufklären. Inspirieren. Den filigranen Drahtseilakt aus Business-Modell und Überzeugungsarbeit tagtäglich meistern und hierfür authentische Kooperationen eingehen, die sich gegenseitig beflügeln, um so folgendes Szenario zu kreieren: die klassische Win-Win-Win-Situation. Für den Influencer. Das Unternehmen. Und die jeweilige Community. Ein Mehrwert für alle Beteiligten und die Blaupause einer Kooperation. Win. Win. Win.

 

Ein Navi gegen Genussinsolvenz

In Deutschland müssen wir die Kirche allerdings im Dorf lassen oder sollten das Gotteshaus maximal an ein fußläufig erreichbares Autobahnkreuz verfrachten, da sich die wirklich reichweitenstarken Wein-Influencer an einer Hand mit drei Fingern abzählen lassen. Hier fehlt es nicht nur an den richtigen Akteuren mit Sexappeal und dem gewissen Etwas, sondern generell an einem Markt. Die Nachfrage bestimmt das Angebot und eben jene ist in Deutschland verschwindend gering. Im genussinsolventen Germany gilt handwerklicher Wein jenseits der Zehn-Euro-Grenze ohnehin als Randgruppenprodukt. Diesen als vermeintlich unabhängiger Influencer in Vollzeit zu bewerben, ist nüchtern betrachtet ein absurd spezieller Nischenerwerb, der mit gefühlt drei Beschäftigten in ganz Deutschland selbst Jobs wie den des Kläranlagentauchers wie ein gängiges Berufsfeld erscheinen lässt. Auch, wenn es so wirken mag, als würden Influencer wie Pilze aus dem Boden schießen, um den Meinungsmarkt im Handumdrehen an sich reißen, halte ich den Gedanken, dass diese Spezies an Oberwasser gewinnt, für eine peinliche Panikmache.

Doch woher genau weht die Annahme, dass Influencer am Ende der digitalen Nahrungskette stehen? In Zeiten von Instagram, YouTube und TikTok formt der Algorithmus unser Weltbild. Beziehungsweise der Content, den uns dieser in die Timeline schwemmt. Wer jeden Tag nichts als Hiobsbotschaften, Eilmeldungen und Schlagzeilen konsumiert, denkt früher oder später, dass die Erde ein ziemliches Drecksloch ist, obwohl uns die Sonne aus dem Arsch scheint. Irgendwie logisch. Wer hier nicht mehrgleisig fährt und sich stattdessen exklusiv von sozialen Medien ernährt, braucht sich also nicht über ein eindimensionales Weltbild wundern, obwohl sich das mediale Mosaik mittlerweile aus diversen Kommunikationskanälen zusammensetzt. Von Events wie Messen und Tastings über eine Reihe von Podcasts und Blogs bis hin zu den klassischen Printmedien, Fachliteratur und den sozialen Medien. Der Meinungsmarkt ist diverser und heterogener denn je. Auch ohne herbeihalluzinierte Influencerplage seitens einer Horde rosinenhirniger Botrytisgesichter, die im Relevanzverlust regelmäßig auf Facebook Tobsuchtsanfälle erleidet.

Hinzukommen eine Batterie neuer Bonsai-Blogs, die stets darum bemüht sind, die eigene Micro-Community zu entertainen, Meme-Seiten in verschiedenen Qualitätsstufen, Menschen, die hobbymäßig Video-Content kreieren und Autodidakten, die Eindrücke, Reviews und Empfehlungen ins Netz kritzeln. Diese Inszenierung färbt auch auf Sommeliers ab. Es reicht mittlerweile nicht mehr, am Gast zu performen oder eine passgenaue Weinbegleitung zu entwickeln, nein, das Line-up muss im Netz landen, bestenfalls bloggt man brav über Messen, Pressereisen und Verkostungen, on top gibt es ein leicht legasthenisches Buch, das von einem krakeelenden Podcast flankiert wird, der spätestens nach drei Minuten zum akustischen Folterwerkzeug mutiert und fertig ist der Nullachtfünfzehn-Auftritt. Selbes gilt für Journalisten, Weinhändler und den abgenagten Rest der Szene. Und selbst Winzer berichten mittlerweile straight aus dem Wengert wie digitale Sternchen – gewappnet mit Selfie-Sticks, Hightech-Mikros und Erzählerstimmen, die jeden noch so routinierten Nachrichtensprecher alt aussehen lassen. Kein Wunder geistert die Idee einer sich pandemisch verbreitenden Influencer-Influenza durch die Köpfe der Menschen. Dem ist allerdings nicht so. Die Welt wird medial nur komplexer. Und die generelle Aufmachung bedient sich an Stilmitteln, die wir mit der Inszenierung von Influencern verbinden. Simple as that.

Hier können sich die wahren Influencer wirklich nützlich machen, indem sie Newbies und Szenefremde durch diese immer komplexer werdende Weinwelt navigieren. Halt geben, Durchblick verschaffen, Bildungsarbeit leisten, geschmacklich inspirieren, spannenden Betrieben, unterschätzten Regionen und innovativen Handlungen eine Bühne bieten und so nebenbei eine jüngere Zielgruppe für unser geliebtes Kulturgut begeistern. Durch eine lockere Art und einen spielerischen Umgang mit diesem arrivierten Sujet. Um so eine Barrierefreiheit zu schaffen, von der fossile Journalisten und arrogante Somms nachts nur träumen können. Wenn das Influencertum irgendeine Superpower hat, dann genau diese. In Zeiten eines sinkenden Alkoholkonsums und einer schwindenden Ausgehkultur wichtiger denn je.

Influencern müsste das Kunststück gelingen, Wein zu einem Lifestyleprodukt zu machen – und das, ohne Alkohol zu verherrlichen, sondern diesen als handwerkliches Genussmittel und Kulturgut zu positionieren. Dafür fehlt den meisten oder fast allen Exemplaren, die sich deutschlandweit vor die Linse drängen, der Star-Appeal und der popkulturell ausgecheckte Background. Der Style. Die Vibes. Das Mojo. You name it. Sich über Influencer aufzuregen, ist dennoch falsch as fuck, sind Influencer nichts weiter als das Produkt der medialen Insolvenz einer Generation stehengebliebener Weingüter sowie einer Horde großer Marken und Verbände, die zu blöd sind, die eigenen Produkte und Visionen clever zu vermarkten.

C-3PO, AI & ewiger Wein

Und auch wenn ich in Weindeutschland keinen astronomischen Markt für Influencer sehe, bleibt das Potential bestehen. Der Mensch wird sich immer nach Menschen sehnen. Auch in Zeiten der KI-generierten Seelenlosigkeit hauchen Werbefiguren aus Fleisch und Blut, ganz gleich, wie plastisch diese teils auch wirken mögen, der CGI-Prärie weiter Leben ein – und das ist gut so. Es geht um Identifikation, Nahbarkeit und Seele. Den Menschen. Große Gefühle. Kunst. Kultur. Und Wein. Und auch wenn die meisten Influencer mechanisch, wie C-3PO kurz vor dem längst überflüssigen Ölwechsel, über unsere Kultur referieren, mit Sprechertexten, die so klingen, als wären die Buchstabensüppchen von ChatGPT geschrieben, gibt es da draußen ein paar Protagonisten, die Realness und Liebe fürs Spiel nicht nur vorgaukeln, sondern diese auch wirklich leben. Anyway. Die besten Weine der Welt brauchen sowieso keine Influencer. Eh klar. Sie wurden gekeltert, als es das Internet noch nicht gab, Marc Zuckerberg als Kaulquappe im Hodensack seines Vaters plantschen war und man bei der Buchstabenkombination „AI“ noch an meinen Lieblingsbasketballspieler Allen Iverson denken musste. Die besten Weine der Welt stammen aus einer Zeit, in der das soziale Medium schlechthin ein gutes Gespräch war. Eine Fahrt mit der Bahn. Die Tageszeitung. Die größten Weine der Welt sind ohne Influencer zu Ikonen geworden und werden diese ulkige Spezies plappernder Internetbewohner auch easy überdauern. Schließlich ist guter Wein keine Modeerscheinung, sondern für die Ewigkeit.

Ein Gastbeitrag von Milton Sidney Curtis, bekannt aus Instagram, wo er seine Follower regelmäßig mit feinem Content versorgt.

 

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