
It’s the freshness, stupid: Trip durchs atlantische Portugal
Na? Schmeckt’s? Ich für meinen Teil schmecke auch wieder. Hat ein bisschen gedauert. Ihr wisst schon: Corona, Impfdurchbruch. Zwischenzeitiger völliger Geschmacksverlust. Zum Glück nur ein paar Tage. Dann kam er nach und nach wieder – aber wirklich gut ist er immer noch nicht. Es schmeckt alles so, als wäre zu wenig Salz dran. Selbst beim Versuch, einen dieser Doppelkekse aus zwei Keksteilen, die aufgrund des enthaltenen Kakaos dunkel gebräunt sind und mit einer weißen Füllung mit Vanillearoma aneinandergeklebt sind, zu mir zu nehmen, habe ich dieses Gefühl noch.
Diese Füllung sieht so blütenweiß aus, dass man den Eindruck gewinnen könnte, die täten niemandem was zuleide. Stimmt aber nicht. Was die Kekse zusammenhält, ist eine Mischung aus Zucker, stark fructosehaltigem Maissirup, Sojalecithin, künstlichen Geschmacksstoffen und Palm- oder Rapsöl. Was mich dabei aber eigentlich umtreibt, ist nicht der Zuckergehalt, den erwartet man ja. Es ist das Salz. Da ist so viel Salz drin, dass man direkt Durst bekommt. Und da man dann ja eh schon Zucker zu sich nimmt, werden die meisten versuchen, ihren Durst, den diese 1912 erstmals auf dem Markt lancierten Kekse auslösen, mit Limonade zu löschen. Oder mit Wein. Also mit Wein, der eigentlich wie Limonade schmeckt.
Den gibt’s nämlich jetzt bei dieser Firma, die diese Kekse herstellt. Keks mit Weinbegleitung. Der Wein kommt von einer Marke, die zum größten Weinkonzern der Welt gehört. Groß heißt: rund eine Milliarde Flaschen jährlich. Und wenn man mal vor den großen Abfüllanlagen gestanden hat, dann weiß man, dass diese Weine genauso entstehen, wie koffeinhaltige Mischgetränke oder Fernsehbiere. In diesem Fall ist es ein Wein, der nicht etwa nach Terroir – okay, das war ein schlechter Scherz – sondern nach Schokolade schmecken soll. Was diese Kombi erzeugt, ist eine fatale Mischung aus Fett, Zucker, Salz und Alkohol.
Der hohe Salzgehalt regt weiter den Durst an. Es sind halt keine Durstlöscher, sie kurbeln vielmehr die Aufnahme weiterer zuckerhaltiger Getränke an. Ein Teufelskreis, den Euch Ernährungsmediziner noch viel genauer erklären können. Ich gehöre nicht dazu. Ich beschäftige mich mit Wein. Und da stelle ich fest, dass wir uns zunehmend in einem immer größer werdenden Geschmacksdilemma bewegen. Weil wir als Gesellschaft viel zu süß essen, gewöhnen wir uns das auch bei Getränken an. Was wir zu uns nehmen, soll schon im ersten Moment so richtig ballern. So ist es in den USA und auch zunehmend in UK normal, dass in den Weinregalen restsüße Rotweine stehen, die in Whisky-Fässern ausgebaut wurden. Dass man Eichenholz-Chips in die Billigweine wirft, um sie aufzuwerten, reicht also schon nicht mehr.
In Frankreich waren Weinmischgetränke, also zum Beispiel Weißwein mit Grapefruitzusatz, einer der Hits der letzten Jahre. Und das bei der Grande Nation! Aber mal ehrlich, das kann einen nicht mehr wundern, wenn man sieht, wie sehr die großen französischen Wasserabfüller mittlerweile auf Wasser-Frucht-Gemische setzen. Und die Hyper-Marché – so heißen dort die Mega-Stores – im Wesentlichen nur noch von drei international agierenden Lebensmittelkonzernen beliefert werden. Der neueste Schrei im Nachbarland ist wohl ein Bordeaux mit Cannabis-Infusion. Das Projekt wurde von keinem geringeren als All-Around-the-World-Winemaker Michel Rolland unterstützt und das Crowdfunding mehrfach überzeichnet.
Was im Umkehrschluss immer mehr unter den Tisch fällt, sind Geschmäcker, die Widerstand bieten. Deshalb sind die meisten Weine, die uns angeboten werden, auch völlig belanglos. Grauburgunder, der diffus schmeckt, mit ein wenig Säure, ein wenig Süße und ein wenig Frucht. Dornfelder oder Primitivo, mit viel Frucht und so gut wie keinem Gerbstoff mehr, dafür aber mit Restzucker. Die Restsüße schleicht sich wie ein Gift in das Sortiment jener Weine, die man eigentlich als trocken wähnt, die es aber genauso wenig sind, wie das meiste, was wir als Convenience im Supermarkt, aber auch in vielen Restaurants vorgesetzt bekommen. Diese Primitivo, gerne auch als Appassimento erzeugt (früh gelesene und getrocknete Trauben), bieten noch mehr Fett am Fleisch bei noch mehr Süße. Dabei ist Fett ja ansonsten recht verpönt.
Als ich mich mit meiner Covid-Erkrankung noch in Quarantäne befand und wieder ein bisschen was schmecken konnte, haben wir mal das indische Restaurant um die Ecke ausprobiert. Das Minz-Raita war, wie sich später am Beipackzettel herausstellte, grün gefärbt und bestand im Wesentlichen aus Zucker. Überhaupt war Zucker das dominierende Element in meinem zugegebenermaßen unvollständigen Geschmacksbild. Was völlig fehlte, war Schärfe. Authentische Schärfe kann man den Kunden, die per Lieferdienst bestellen, heute vielleicht ebenso wenig zumuten, wie Bitterstoffe, Gerbstoffe oder herbe Noten. Jedenfalls arbeitet eine ganze Industrie daran, ehemals bittere Salate von ihren Geschmacksstoffen zu entledigen. Chicorée, Endivien, Frisée, Lollo Rosso, Radicchio oder Löwenzahn soll nur noch authentisch aussehen. Der Geschmack aber muss nivelliert werden.
In den meisten Restaurants kommen solch klassische Salate ebenso selten vor, wie hochwertige Olivenöle, die ihre grün herben Noten gleich mitbringen. Statt eines vernünftigen Aceto Balsamicos wird lieber die Crema eingesetzt – der Süße wegen. Was dabei verloren geht, ist Vielfalt. Und außerdem die Fähigkeit, feine Geschmacksverästelungen wahrzunehmen. Der ordinäre Geschmack des Alltäglichen lässt uns immer mehr den Sinn für die Feinheiten verlieren, wenn wir dem nicht entgegenwirken.
Das zeigt sich auch bei Düften. Das ist zwar kein neues Phänomen – zumindest, wenn ich mich an meine Jugend und die unglaubliche Aufdringlichkeit des damaligen Davidoff-Cool-Water-Parfums erinnere. Doch Düfte werden immer künstlicher und sie werden natürlich auch bewusst als Lockstoffe eingesetzt. Was bei Fruchtfliegen funktioniert, klappt auch bei uns. So gibt es Modeunternehmen, die Menschen mit Lockstoffen in ihre Läden locken. Der Sinn für die feinen Nuancen aber bleibt zunehmend auf der Strecke. Das gilt übrigens nicht nur für Wein und Speisen, sondern auch für Musik, Film und politische Diskurse. Aber das ist ein anderes Thema.
Ich war jedenfalls ziemlich aus dem Häuschen, als ich nach rund anderthalb Monaten Geschmacksverlust erstmals wieder das Gefühl hatte, mehr schmecken zu können als Süße, Umami und irgendwann auch wieder Salz. Die Sinne gezielt und ganz bewusst einsetzen zu können, ist ein großes Geschenk. Man muss sich das allerdings ein bisschen erarbeiten. Die Sinne sind da, aber wir nutzen sie zu wenig. Und wenn wir sie zu wenig nutzen, dann haben wir ein Problem, uns auf unseren eigenen Geschmack zu verlassen, der sich ja auch wieder ändern kann. Seit meine Tochter beispielsweise mit mir kocht, isst sie Wirsing, frischen Spinat, Rosenkohl, Blumenkohl und andere gekochte Gemüse. Da war vorher nicht dran zu denken, aber es eröffnet eine neue Welt.
Und da das Angebot, über das wir verfügen, nie größer war als heute, ist diese neue Welt groß und kann immer größer werden. Das ist es, was mich über die letzten drei Jahrzehnte hinweg, in denen ich mich mit Wein beschäftige, immer wieder neu fasziniert. Wenn man offen bleibt und ausprobiert, wird man nicht nur toleranter, man wird sich auch seines eigenen Geschmacks bewusster.
Christoph Raffelt