Malbec, der große Verführer
Mein Großvater aus Alabama, der bereits 2004 im Alter von 61 Jahren verstorben ist, hieß Milton mit Vornamen. Damals im kasernengesprenkelten Stuttgart stationiert, kurz vor der Jahrtausendwende wieder von der U.S. Army einberufen, verlief unser Kontakt eher sporadisch, besonders da sich meine Englischkenntnisse im Kindesalter noch in Grenzen hielten. Nichtsdestotrotz trage ich einen Teil meiner Herkunft immer bei mir. Im Namen und im Herzen.
Mein Rufname ist Sidney. Nicht Melbourne, Perth oder Canberra. Die Stadt in Down Under schreibt man sowieso anders. Seit ich auf Instagram aktiv bin, eine Art kalendarische Stilblüte, die eine neue Zeitrechnung meines Lebens einläutet, Ironie aus, begegnet mir das großväterliche Milton immer öfter und erinnert mich an meine Wurzeln, die irgendwo in den Südstaaten der USA liegen. Irgendwie romantisch, da mein Vater auch Milton heißt: Milton René Karl-Heinz, um genau zu sein. Doch irgendwie auch crazy, dieses Amerika, meine Wurzeln. Dieser Part von mir. Jedes Mal, wenn ich daran denke, dass ich Viertelamerikaner bin, wird mir slightly schwindelig. Soll ich in den star-spangled banner gehüllt, mit geladenem Revolver an der Hüfte und Weißkopfadler am Handgelenk salutieren? Oder in Embryonalstellung vor Fremdscham erröten? Das Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten treibt mich regelrecht zur Weißglut. Ein Taumeln zwischen Scham und Stolz.
Der Wahnsinn USA
Manchmal kommt mir das Land meiner Ahnen wie ein gescheitertes soziales Projekt vor. Das Laborexperiment für einen Weltstaat. Frankensteins landgewordenes Monster, das munter Weltpolizei spielt, lustig in Länder marschiert und Militärstützpunkte wie Sandburgen baut. Ein multikulturelles Mosaik. Fast-Food-Mekka, Tech-Eldorado, Wirtschaftsmacht, Absurdistan. Zeitgleich die Geburtsstätte von Hollywood. Der NBA. Rock’n’Roll, HipHop und Soulmusik. Silicon Valley, Apple, Area 51, Mount Rushmore, New York City. Ein Seiltanz auf Stacheldraht, irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn. Schwindelerregend, diffus, bescheuert, doch auch genial, revolutionär und groß. Ein flächendeckendes Störfeuer an Eindrücken, schier nicht zu bändigen. Überall Action, Kitsch und Chaos – schneller, größer, weiter. Sims, Madden, GTA. Hinzukommt dieser kugelsichere Waffenfetisch, der das Land buchstäblich perforiert und ein absurd fragmentierter Geheimdienst, der den BND wie einen Pfadfindertreff wirken lässt, der Schnitzeljagd auf Schwerverbrecher macht. Uncle Sam, Lady Liberty, Allen Iverson, Kendrick Lamar, Oprah Winfrey, der Marlboro-Mann, Kamala Harris und Donald Trump – alle vereint unter einem blauen Himmel, der mit 50 Sternen besetzt ist. Ethischer Schmelztiegel, eine endlose Cuvée der Kulturen – Land of the Free und Home of the Brave.
Yes, die Unvereinigten Staaten von Amerika sind easy die größte Shitshow des Planeten und dabei genial wie kein zweites Land. Das Enfant terrible von Mutter Erde.
Bei all dem Uga Uga könnte man fast vergessen, und darum geht es mir, dass die U, S und A, wie Borat sagen würde, geniale Blockbuster auf Flasche beamen. Feinen Stoff fernab rotgrütziger Gerbstoff-Bazookas, die Glühwein schreien. Und auch die goldgelben Chardonnays aus California mit schreinermeisterlichem Holzeinsatz werden weniger. That’s right: Amerika kann mehr als Karamellsaft und Trinkmarmelade. Amerika kann Wein. Und wie. Yes, they can.
Insbesondere das politische Geschehen, vor nicht allzu langer Zeit noch der geistige Schwanzvergleich zweier Rentner, die an geistiger Impotenz leiden, lenkt von der Tatsache ab, dass unglaublich spannende Betriebe die US-Weinlandschaft besiedeln – und das von Oldschool bis Avantgarde, ob Kalifornien, Oregon oder Washington. Wer allerdings einen ovamaltinefarbenen Businessmann, Ex-TV-Star und verurteilten Straftäter, der Steuern hinterzieht und Schmuddelfilmdarstellerinnen Schweigegeld zahlt, ins Rennen um das mächtigste politische Amt des Planeten schickt, hat es nicht anders verdient, als von mir für verrückt erklärt zu werden. Selbes gilt für Sleepy Joe, diesen heftig verwirrten Ötzi, der so zerstreut ist, dass er Selenskyj allen Ernstes Putin nennt. Das sollte man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Der vermeintlich mächtigste Best Ager der Welt stellt den Präsidenten der Ukraine als den Mann vor, der dessen Land gerade zerbombt. Es ist bezeichnend, ein Affront, Realsatire. Dass der 46. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika auf die erneute Kandidatur verzichtet, um Platz für frischen Wind zu machen, war mitunter sein hellster Moment. Generell wirken die letzten Meter seiner Legislaturperiode wie ein wahlgewordener Fiebertraum. Der großmäulige Karottenkopf wurde um Haaresbreite von einem Psycho abgeknallt, Taylor Swift schaltet sich in den Wahlkampf ein und Elon Musk spielt mit 118 Millionen Dollar erneut Sugar Daddy für Donald. Laut der karamellfarbenen Trompete essen Immigranten Haustiere, Charli XCX macht Kamala zur „brat“ und Biden, keine Ahnung, vergessen. Kein Regisseur der Welt hätte diesen Wahnsinn so inszenieren können. Diese Geschichte schreibt das Leben, die Geschichte schreiben die USA.
Dass Hendrik, der auch in Paris australischen Chardonnay bestellt, einen elefantösen Überseefimmel hat, dürfte bekannt sein. Als Grenzgänger und Pionier liebt der schattenboxende Silberrücken das Unbekannte. Die Ferne. Neue Ufer. Übersee. Genau deshalb kommt sein US-Portfolio alles andere als angestaubt um die Ecke gebrettert. Swiffer-Time! Hendrik zelebriert den Modernismus. Avantgardistisch, unangepasst, mit Konventionen brechend, mutig. Man könnte seine Auswahl glatt mit Alben von Prince, Jimmy Hendrix, Kendrick Lamar oder OutKast verwechseln. Liebevoll kuratiert wie Kuschelrock-Playlisten, always on point, anders, dope.
Da die US-Wahlen vor der Türe stehen wie die Zeugen Jehovas und heute große Amiland-Arrivage bei Wein am Limit ist, gilt: MSC goes USA!
Die Appellationen in den USA werden seit 1983 American Viticultural Areas genannt. Es gibt 258 dieser AVAs, verteilt auf 34 Bundesstaaten. Mehr als die Hälfte findet man in Kalifornien, der Gallionsfigur des US-amerikanischen Weinbaus. Der Sunshine State schenkt sage und schreibe 152 dieser 258 AVAs ein Zuhause. Auch meine drei WaL-Kandidaten stammen allesamt aus Kalifornien und hören nicht auf die Namen Harris und Trump, sondern Matthiasson, Arnot-Roberts und Hanzell.
Das balancierte Meisterwerk
Beginnen wir mit dem Chardonnay „Linda Vista“ 2021 von Matthiasson. Ein handwerkliches Meisterwerk straight aus dem Napa Valley. In fünf qualitätsversessenen Durchgängen penibel von Hand gelesen für maximale aromatische Balance. Die etwas früher geernteten Trauben spenden Säure, Crunch und Freshness, die zu einem späteren Zeitpunkt gepickten Früchte sorgen für Körper, Komplexität und aromatische Tiefe. Die Bewirtschaftung der Weingärten erfolgt certified organic, wie man im Prenzlauer Berg sagen würde, im Keller setzen die Matthiassons auf low intervention und verzichten auf Schönung, um den uniquen Charakter des Terroirs möglichst nicht mit önologischem Make-up zu vertuschen. Im Falle des „Linda Vista“ bedeutet das sanfte Ganztraubenpressung, kein aggressives Auswringen des Leseguts, anschließende Spontangärung mit wilden Hefen in gebrauchten Fässern, die dem Wein im Gegensatz zu braungebrannten Barriques weniger Fremdaromatik addieren. Keine Battonage, sprich Aufrühren der Hefe, für noch mehr Frische, zusätzlich verzichten die beiden auf den Abstich. Der Wein darf also besonders schonend auf der Vollhefe reifen, was eine geringere Schwefelbeigabe erlaubt, ehe dieser vibrierende Chardonnay gefüllt wird.
Was dann am Gaumen passiert, catcht mich komplett. Keine Holzbrühe, die goldgelb ins Glas humpelt, sondern ein knackiger Burgunder mit schlanken 12,5 % Alkohol, grüngelber Frucht, dezenter Säure, salzigem Touch und feinem Schmelz im Finish. Love it. Die pure Trinkfreude und trotz des naturnahen Ausbaus kristallklar und piekfein. Hier steht die Balance im Vordergrund, alles ist wohldosiert, nichts drängt sich unangenehm ins Rampenlicht. Kein reduktiver Schmauch, der sich nebulös über den Wein legt, keine Säure, die Sodbrennen schreit und auch der Holzeinsatz macht diesen Chardonnay nicht zum Gesellenstück. Genial für Fans schlanker Chablis. Eine erfrischende Alternative, wenn einem das Burgund zu den Ohren herauskommt. (Dieses balancierte Meisterwerk gibt’s hier bei uns im WaL-Shop)
Der Bewusstseinserweiternde Tropfen
Kommen wir zum Trousseau 2020 von Arnot-Roberts, der auf den Namen „Luchsinger Vineyard“ hört. Astreines Spezialmaterial, flüssiger Free Jazz, ein Wein so bewusstseinserweiternd wie der erste Zug dieser einen Sportzigarette im Stadtpark von Stuttgart, damals, 2010 oder so, als das Leben noch nicht in Kalenderwochen tranchiert vor sich hinplätscherte. Die Rebsorte stammt ursprünglich aus dem Jura und wird dort auf wenigen hundert Hektar zu feinwürzigen Rotweinen von vibrierender Leichtigkeit gekeltert, doch die Anbaufläche schrumpft jährlich, da die Rebsorte nur noch unter hartgesottenen Freaks verbreitet ist. Der Rebgarten wurde 1999 von Bernie Luchsinger auf vulkanisch angeschwemmten Böden über einem urzeitlichen Flussbett gepflanzt. Damit war der gebürtige Chilene der erste Mensch überhaupt, der an eine neue Heimat für diese Sorte in Kalifornien glaubte, was ihn zum önologischen Pionier macht. Obwohl es tagsüber warm wird, funktioniert das ganz wunderbar, da es nachts in dieser nördlicheren Region nahe dem Clear Lake auf über 400 Meter Seehöhe deutlich abkühlt. Ein mikroklimatischer Geniestreich. Ein weiterer Teil für den Wein stammt aus dem „Les Cimas Vineyard“, der im AVA Russian River Valley liegt. Die Parzellen werden nachhaltig bewirtschaftet, die Früchte von Hand gelesen. Der Saft wurde sanft mit der Korbpresse aus den Früchten gekitzelt, anschließend mit Stängeln und Stilen im Betongebinde spontanvergoren. Danach 8 Monate in gebrauchten Barriques aus Frankreich und partiell im Edelstahl gereift, ehe geblendet.
Der Wein fließt negronifarben ins Glas, leicht rostig, mit orangefarbenen Reflexen, die an einen Sonnenuntergang im Spätsommer erinnern. In der Nase zurückhaltend. Am Gaumen dann wunderbar saftig und animierend. Irgendwo zwischen naturbelassenem Vernatsch, sanftem Nebbiolo und einem Pinot Grigio, der auf der Maische vergoren wurde. Blind würde ich das ins Trentino oder Friaul schicken. Vielleicht auch nach Südtirol. Kalifornien? Never ever. Knochentrocken. Viel Tee, ätherische Noten, die an kräuteriges Kombucha erinnern. Hinten raus ein feiner Bitterstoff, der Assoziationen von Chinotto hervorruft, dieser yummy Bitterorangenlimonade aus Italien, die entfernt an Cola erinnert, allerdings ohne den Zucker auskommt und einen seriösen Bitterstoff in Petto hat, der den Speichelfluss anregt und stimulierend wirkt. Feines Tannin, nicht mürbe oder austrocknend, nur leicht den Gaumen auskleidend, dann wieder Tee. Slightly chilled stelle ich mir das ganz wunderbar zu Pizza mit scharfer Salami, Pasta mit Nduja und oder gebackenem Kürbis mit einem Salat aus roten Zwiebeln, Petersilie und Taggiasca-Oliven vor. Dazu geschmorter Radicchio und Orangenfilets, what a life! Genial. Dass es solche Weine überhaupt im Land der Trinkmarmelade gibt, grenzt an ein Wunder. Don’t get me wrong: Das ist kein crowd pleaser, ganz im Gegenteil. 97,6 % der NPCs, die unseren absurden Planeten besiedeln, checken Stoff wie diesen nicht. Wäre der Wein eine Speise bei meinem Sichuan-Chinesen in Sillenbuch würde daneben in Comic Cans stehen: Nur für Kenner! Dennoch absurd gut. Als hätte Martin Gojer versucht, aus Vernatsch Negroni zu machen. Man könnte glatt meinen, Josko Gravner hätte ein Négoce-Projekt mit Trauben aus dem Jura gestartet oder dass es sich hierbei um den maischevergorenem Pinot Grigio aus dem Trentino eines Elisabetta-Foradori-Schülers handelt, der kurz vor dem Hype steht. Stattdessen: Duncan Arnot Meyers and Nathan Lee Roberts, kurz Arnot-Roberts. Trousseau, Kalifornien, crazy. (Diesen bewusstseinserweiternden Tropfen findet Ihr hier bei uns im WaL-Shop)
Der große Klassiker
Last but not least der Pinot Noir von Hanzell Vineyards. Der große Klassiker des Line-ups. Spätburgunder straight aus dem Sonoma Valley, das eine Autostunde entfernt von San Francisco liegt. Auch wenn man schnell ans Silicon Valley denken muss, ist dieser Wein alles andere als plastisch. Die Weinberge werden organisch bewirtschaftet, die Trauben von Hand gelesen und anschließend spontanvergoren, ehe der Wein in gebrauchten Fässern und neuen Barriques aus Frankreich reifen darf. Wer mich kennt, weiß, dass ich gerne die feinen Spätburgunder großer Namen wie Huber, Christmann oder Fürst schlürfe. Hanzell schlägt genau in diese Kerbe. Großes Winemaking to the fullest. Ein Smooth Operator von Spätburgunder – fein, delikat, nobel, von trinkfreudiger Saftigkeit, gerahmt von einem seidenen Tanningerüst. Erdige Töne treffen auf ein Potpourri roter Beeren, feine Holzkontur, getragen von einer animierenden Säure. Das umarmt Gaumen und Seele. Yummy, einfach yummy. Hier gibt es nichts zu Intellektualisieren. Kein Free Jazz, sondern sanfter Soul, ein Wein zum Schmatzen und zum Schwelgen, Balsam für die Seele wie die Stimme von Marvin Gaye. Ein Wein, der so balanciert und seelenruhig um die Ecke schlendert, dass er einen das Chaos, das dieser Tage in den USA herrscht, für einen kurzen Augenblick vergessen lässt. Gaumenyoga. Meditativ.
In sich ruhend. Ein Wein, der nicht lauter sein möchte als andere. Nicht besser, nicht schneller, nicht höher, nicht weiter. Dieser Wein steht für sich. Und lässt mich an ein Amerika denken, das uns nicht bald um die Ohren fliegt ist. Ein intaktes Amerika. Ein ruhiges Amerika, ein freies Amerika, ein souveränes Amerika. Die Wiege der Welt. Land of the Free und Home of the Brave. (Den Smooth operator gibts hier in unserem WaL-Shop)
Irgendwo tief in mir schlummert dieses Amerika. Das Amerika, das ich romantisiere. Das Amerika, das ich vermisse, obwohl ich dort nie dort gewesen bin. Das Amerika der Seele. Meiner Seele. Ein kleiner Ort, irgendwo in Alabama, an dem sich Allen Iverson, LeBron James und Stephen Curry treffen, um Jumpshots zu nehmen. Über eine JBL laufen Songs von Nas, Marvin Gaye und OutKast. Meine Mutter ist da, glücklich und zufrieden. Meine kleine Schwester. Julius, ein Freund der Familie, hängt bis zu den Ellenbogen tief in einer Plastikwanne und knetet seinen legendären Coleslaw, dessen Rezept bis heute niemand kennt. Anthony und Rob sind da, Onkel John mit der Yankees-Cap und meine liebe Oma Gertrud. Mein Vater brät Burger und grillt Spareribs und auch mein Opa Milton schaut ein letztes Mal als Windzug vorbei. Was es neben Gatorade und Welch’s Grape Soda zu trinken gibt? Logisch, wie soll es auch anders sein. Die wunderbaren Weine von Matthiasson, Arnot-Roberts und Hanzell Vineyards, die mich sanft daran erinnern, dass die USA mehr können als Hirntod, ADHS und Adipositas. In diesem Sinne: God Bless America und cheers everyone.
Und hier noch Euer Link in unseren Shop zu Miltons WaL-Kandidaten in unserem Shop!
Ein Gastbeitrag von Milton Sidney Curtis, bekannt aus Instagram, wo er seine Follower regelmäßig mit feinem Content versorgt.