Willkommen im neuen Kalifornien
Als ich einmal mit Journalistenkollegen in Aragón unterwegs war, besuchten wir ein Weingut, das ausschließlich Rotweine aus Garnacha keltert, wie die Grenache in Spanien heißt. Die Flaschen gehen teilweise für über 100 Euro über den Ladentisch. Es war Ende September und als wir ankamen, schien alles perfekt: 700 Meter hoch gelegene, biologisch bewirtschaftete Weinberge mit 60 Jahre alten Buschreben auf weißen Kalkböden in einer weiten, menschenleeren Landschaft. Nur eine Sache machte unsere Gruppe stutzig. An den Rebstöcken hingen noch die Trauben, von denen ein großer Teil bereits zu schrumpeln begann. Ob nicht schon Lesezeit sei, fragten wir. Nein, antwortete der Önologe, die Trauben hätten die phenolische Reife noch nicht erreicht und seien erst in zwei Wochen fällig. Diese Aussage ließ uns doch etwas verblüfft zurück, und das folgende Tasting bestand entsprechend aus pechschwarzen, ultrareifen Weinen mit 16 Prozent Alkohol.
Derartige Blockbuster-Grenache finden sich auf der ganzen Welt. Wie eine überladene Barockkirche haben sie quasi von allem zu viel: zu alkoholisch, zu konzentriert, zu kräftig, zu marmeladig, zu süßlich, zu schokoladig, zu dunkelfruchtig. Darüber hinaus gab und gibt es eine zweite Kategorie: Obwohl die Grenache in fünf Kontinenten vertreten ist und nach Fläche die fünftgrößte Rotweinsorte der Welt darstellt, befanden sich im Jahr 2023 rund 85 Prozent ihrer Vorkommen in Frankreich (78.600 ha) und Spanien (59.500 ha). Da es sich um eine sehr ertragreiche Sorte handelt, wird sie dort auch zur Herstellung billiger Massenweine herangezogen. Wenn die Erträge aber zu hoch sind, kommen die Weine flach und eindimensional daher.
Diese beiden Pole prägten lange Zeit das Bild der Grenache. Auf geradezu seltsame Weise mangelte es ihr an Prestige, obwohl sie in prestigeträchtigen Regionen wie Châteauneuf-du-Pape und Priorat die wichtigste Cuvée-Sorte darstellt. So geht die aromatische, aber weniger strukturierte Grenache etwa in Châteauneuf-du-Pape eine vielgerühmte Liaison mit der tanninreicheren Syrah ein. Jedoch gab es außer dem legendären Château Rayas kaum reinsortige Gewächse mit Kultstatus. Darüber hinaus spielte die Grenache in Reinform allenfalls bei Roséweinen in manchen Ländern und Regionen noch eine wichtige Rolle.
The New Age of Grenache
Das hat sich mittlerweile grundlegend geändert, so dass die New York Times in einem Artikel von 2021 sogar ein „New Age of Grenache“ ausrief. Das neue Zeitalter besteht darin, dass sich neben den zu fetten und den zu flachen (reinsortigen) Grenaches eine dritte, hochinteressante Kategorie entwickelt hat: Überall auf der Welt richten Winzerinnen und Winzer den Fokus nicht mehr so sehr auf Konzentration oder Menge, sondern auf Eleganz und Frische, auf Präzision und Klarheit. Mehr Bauhaus statt Barock!
Oft arbeiten diese Vignerons mit alten Reben und niedrigsten Erträgen. Zugute kommt ihnen, dass die Grenache weniger anfällig für Holzkrankheiten als andere Reben ist, und es so einen relativ hohen Bestand an alten Weinbergen gibt. Außerdem setzen sie auf eine frühe Lese, behutsame Extraktion und überhaupt weniger Eingriffe im Keller. Da die Trauben der Grenache eine dünne Schale haben und deshalb über wenige Tannine verfügen, verwenden viele Winzer einen bestimmten Prozentsatz an Rappen bei der Gärung, um auf diese Weise mehr Gripp und Struktur zu erhalten.
Im Ergebnis entstehen so einige der feinsten Rotweine der Welt. Typisch für die „New Wave“ Grenaches sind etwa florale, kräuterige, manchmal auch ätherische Noten, dazu eine gewisse pfeffrige Würze, eine saftige rote Frucht und seidige Textur. Im Glas kommen die Weine oftmals mit heller, transparenter Farbe daher, sie sind schlanker und scheinbar leicht, besitzen aber eine enorme Griffigkeit, Tiefe und Energie.
Natürlich tragen Boden, Klima, Höhenlage, Hangneigung und der Ansatz des Winzers entscheidend zum Charakter eines Weins bei. Dennoch scheint die Grenache eine ganz eigene Fähigkeit zu besitzen, sinnliche und verführerische Gewächse hervorzubringen. Bei Garnacha denke sie an eine „sexy Lady“, schreibt die Journalistin Amaya Cervera im Magazin Spanish Wine Lover. In ihrer spanischen Heimat liegt die Sorte heute voll im Trend. Es gibt dort sogar Menschen, die sich „Garnachistas“ nennen (auf Insta gibt es einen Hashtag dazu), was keine linke Untergrundarmee ist, sondern nur die „Fans der Garnacha“ bedeutet.
Spanien gilt übrigens als Ursprungsland der Grenache oder Garnacha. Ein weiteres Synonym ist Cannonau auf Sardinien. Es existiert sogar die Theorie, dass die Grenache von dort stammt: Sardinien gehörte vom 14. bis 18. Jahrhundert zum Königreich Aragón. So soll die Traube nach Spanien gekommen sein. Heute sind sich die Rebsortenforscher, sofern sie keine Sarden sind, jedoch einig, dass es umgekehrt war: Wegen der großen Klonvielfalt im Ebrogebiet verorten sie den Ursprung der Rebsorte dort.
Grenache goes Premium
Man kann zudem sagen, dass das von der New York Times propagierte „New Age of Grenache“ zuerst auf der iberischen Halbinsel so richtig Fahrt aufgenommen hat. Die Epizentren der Bewegung sind das Ebrotal von Katalonien bis Rioja Oriental sowie die Sierra de Gredos. Jener Gebirgszug nahe Madrid war der Weinwelt vor 15 Jahren noch völlig unbekannt. Was Gredos aber hatte, war ein vergessenes Weinerbe mit uralten Garnacha-Reben auf Granitsandböden in Höhenlagen von bis zu 1.200 Metern.
Die wilde Bergregion wurde schließlich von Winzern wie Dani Landi wachgeküsst. Seine Garnachas hatten eine Klarheit und Transparenz, eine knackige Frische und Mineralität und waren überhaupt von einer ungeschminkten Eleganz, die im Spanien der späten 2000er und Anfang der 2010er Jahre geradezu revolutionär und in der Folge auch stilbildend war. Neben ihrer einzigartigen Herkunft tragen die Weine die Handschrift einer spezifischen Weinbereitung. So verzichtet Dani Landi etwa auf die Pigeage. „Damit erhält man dunklere Weine mit mehr Frucht, aber man verliert an Finesse und Präzision“, sagte er mir einmal. Stattdessen gießt er morgens und abends mit einer kleinen Gießkanne etwas Most auf den Tresterhut, nur damit dieser nicht austrocknet. Extraktion light!
Wie wichtig Grenache in Spanien (und Spanien für Grenache) geworden ist, zeigt auch die Verkostung „The Judgement of Wimbledon“, die kürzlich in London mit einem Wineup aus hochkarätigen Grenaches stattgefunden hat. Nach mehreren Blindverkostungen in der Vorauswahl schafften es 14 spanische Gewächse in das Finale mit 16 Weinen.
Der von den Juroren am höchsten bewertete Siegerwein kam allerdings aus Südafrika, der superelegante Soldaat 2021 von The Sadie Family in Swartland. Alte Reben, Höhenlage, Granitböden und minimal Intervention bilden auch hier den Markenkern. „In Bezug auf Premium Fine Wine können nur wenige Rebsorten mit Grenache mithalten“, schreibt Greg Sherwood MW in seiner Nachbetrachtung des Tastings.
Von einem „internationalen Revival“ der Sorte im Allgemeinen und von der Feinheit eines Grenache-Gewächses von „A Tribute to Grace“ im Besonderen schwärmt auch Jancis Robinson in der Financial Times. Winzerin Angela Osborne gewinnt den köstlichen Stoff aus dem 1910 gepflanzten Besson Vineyard im kalifornischen Santa Clara County. Die uralten Reben in der Nähe der Monterey Bay können den Ozean förmlich riechen.
Auf der anderen Seite des Pazifiks, in Australien, gibt es im Barossa Valley sogar die ältesten Grenache-Reben weltweit. Manche Stöcke erreichen ein biblisches Alter von 175 Jahren. Bis in die 1970er kam die Grenache in Down Under häufig für gespritete Weine zum Einsatz. Da diese in der Folge immer weniger getrunken wurden, ging der Bestand von 6.100 Hektar in 1975 auf 1.800 Hektar in 2023 zurück. Im McLaren Vale ist die Sorte zuletzt wieder stark in Mode gekommen, so dass sich die Traubenpreise in fünf Jahren verdoppelt haben und inzwischen jene von Shiraz übertreffen. Fast 80 Jahre alt sind die Reben des vibrierenden, enorm trinkanimierenden „The Green Room“ von Ochota Barrels. Der Wein stammt aus einer Hochlage und wirkt so frisch wie ein Gebirgsbach. „Wir ernten sehr früh und erhalten so eine wundervolle Säure und einen geringeren Alkoholgehalt, was ihn besonders für die Gastronomie geeignet macht“, sagt Winzerin Amber Ochota.
Zukunftssorte Grenache?
Paradoxerweise steht dem Aufstieg der Grenache im Fine-Wine-Bereich ein epischer Rückgang der Rebfläche gegenüber: 1990 war sie in Spanien mit 169.000 Hektar noch die meist angebaute Rotweintraube des Landes (damals sogar der Welt). Doch dann verlor sie bis 2015 sage und schreibe 110.000 Hektar und wurde vom Tempranillo quasi auf der linken Spur mit 300 Sachen überholt und abgehängt. Signifikant war auch der Verlust in Frankreich, Kalifornien und, wie schon gesagt, in Australien, dort etwa auf Kosten von Syrah und Cabernet Sauvignon. Seit einigen Jahren haben sich die Bestände jedoch stabilisiert, in manchen der genannten Länder legt die Sorte wieder zu.
Tatsächlich dürfte der Grenache im Weinbau eine gute Zukunft bevorstehen, sofern man angesichts des Klimawandels überhaupt von einer guten Zukunft sprechen kann. Da die Sorte relativ trockenheits- und hitzebeständig ist, eignet sie sich für den Anbau in heißen Regionen. Ich habe in letzter Zeit mehrere Winzer im Ebrogebiet getroffen, die es heute bereuen, in den 1990ern ihre Grenache-Weinberge durch Tempranillo ersetzt haben. Manche beginnen wieder damit, den Tempranillo umgekehrt mit Grenache zu ersetzen. In den heißen Jahren, sagten einige, würden sie Garnacha mit einem pH-Wert von um die 3,4 ernten, während der Tempranillo einen pH-Wert von 3,9 bis 4 erreiche, was einen enormen Unterschied zugunsten der Garnacha ausmacht.
Außerdem entwickeln die Buschreben der Grenache ein größeres Blätterdach und bieten somit einen besseren Sonnenschutz. Ein weiterer Vorteil ist die erwähnte Resistenz gegenüber Holzkrankheiten, die zukünftig aufgrund ausbleibender Winterfröste eine noch größere Gefahr für die Rebbestände darstellen dürften. Durch steigende Temperaturen verschiebt sich auch die Weinlese nach vorne. Da die Grenache spätreifend ist, fällt ihre Reifephase meist in den Herbst, wenn die Temperaturen weniger hoch sind, was tendenziell für besser balancierte Trauben spricht.
Die Sorte ist und bleibt aber eine Gratwanderung, zum Beispiel bauen die Trauben relativ viel Zucker auf. „Die Buschrebe sollte wie ein Pilz aussehen, wie ein Schirm aus Blättern“, erklärt Dani Landi den Schutz der Trauben vor zu hoher Sonneneinstrahlung. „Aber wir entfernen heute mehr Blätter als früher von jeder Rute. Denn je mehr Blätter, desto mehr Photosynthese, desto schneller reifen die Trauben, desto mehr Zucker und desto mehr Alkohol. Das ist ein Balanceakt.“ Wer diesen Akt meistert, erhält von der Grenache wunderbar vielschichtige und atemberaubende Weine.
Ein Gastbeitrag von Thomas Götz — er lebt nahe Granada, ist u.a. Korrespondent von Wein+Markt und Betreiber des Blogs Spaniens Weinwelten.