Malbec, der große Verführer
Diese Regel beginnt folgendermaßen: »Es wird viel romantisiert und viel Bullshit über das Alterungspotential von Wein geschrieben, aber der größte Teil aller Weine sollte besser jung getrunken werden.« Genau das finden wir auch. 95 % aller weltweit produzierten Weine sollten dann getrunken werde, wenn sie auf den Markt kommen. Aber was ist mit den andern 5 %? Welche Art von Wein fällt in diesen kleinen Bereich? Das ist gar nicht so leicht zu beantworten – wie vieles im Leben. Aber wir unternehmen mal einen Versuch, stellen ein paar Regeln auf und versuchen dabei, auf Bullshit zu verzichten.
Erste Regel: Erst ist es Polymerisation, dann Oxidation oder »Weine reifen zu lassen ist nichts anderes, als Obst unter kontrollierten Bedingungen vergammeln zu lassen.«
Diese Aussage stammt von Jim Clendenen, und damit von dem Winzer, der einer der ersten Vertreter des New California war. Für Clendenen wie für jeden anderen, der sich mit chemischen Prozessen im Wein auskennt, ist klar, dass Sauerstoff in der Flasche über die Jahre hinweg zunächst für eine schleichende Veränderung des Weines sorgt und damit auch für seinen stetigen Verfall
Deshalb wird es jetzt einen Absatz lang ein wenig technisch: Der Sauerstoff hat Auswirkungen auf die Anthocyane, also die Farbstoffe, weshalb Weine im Laufe der Zeit auch braun werden. So wie die Anthocyane reagieren auch die meisten anderen im Wein enthaltenen Flavonoide (sekundäre Pflanzenstoffe) und Phenole (aromatische Verbindungen) mit Sauerstoff und verändern sich. Gleiches gilt für den Duft, der in Kohlenwasserstoffverbindungen entsteht und ebenso für die Tannine, die sich unter Luftzufuhr deutlich verändern. Das kann man schon dann erkennen, wenn man ein und denselben Wein frisch aus der Flasche trinkt oder aus einer Karaffe, in die man ihn einige Stunden vorher gegossen hat.
Was in der Flasche nur sehr langsam passiert, wird in der Karaffe beschleunigt: Es ist die Polymerisation, also die Verkettung von Molekülen. Dabei sorgt die Sauerstoffzufuhr dafür, dass aus kleinen, kurzkettigen Verbindungen größere bzw. langkettige Verbindungen werden. Beim Tannin ist der Effekt beispielsweise, dass der Wein sanfter wird und eleganter erscheint.
Primäre und sekundäre Aromen verändern sich zu tertiären Aromen. Das heißt, dass das, was an Aromen im Weinberg (zum Beispiel Pyrazine, also die grünen Noten wie Stachelbeere oder grüne Paprika bei Cabernet und Sauvignon blanc, oder auch Thiole, die für Maracujanoten beim neuseeländischen Sauvignon blanc sorgen, oder Terpene, die für Litchi, Rose oder Muskat beim Riesling oder Traminer sorgen) bzw. bei der Vergärung und dem Ausbau im Keller entsteht (zum Beispiel Butter, Hefezopf, Knallplättchen, Käse oder eingekochte Früchte) sich durch den steten Einfluss von Sauerstoff zu Aromen wie Leder, Asche, Herbstlaub, Honig, Kaffee, schwarzem Tee, Pilzen oder Petrol verändert. Irgendwann wird die Oxidation schon in der Flasche so weit vorangeschritten sein, dass das Aroma des Weines beim Einschenken ins Glas in kürzester Zeit zerfällt. Doch auf dem Weg der stetigen Oxidation gibt es ein Trinkfenster, in dem ein Wein seinen Höhepunkt an Komplexität erreicht. Wenn man das erwischt, kann man wundervolle Weinmomente erleben. Leider hat man das nicht immer in der Hand; denn es gibt sehr viele unterschiedliche Einflüsse, die das Leben eines Weines verkürzen können.
Zweite Regel: Man sollte die Herkunft des Weines kennen, den man lagern möchte.
Zu den unterschiedlichen Einflüssen, die das Alterungspotential eines Weines beeinflussen, gehören natürlich der Verschluss der Flasche und die Qualität der Lagerung. Vor allem über Letztere sollte man sich sehr genau im Klaren sein, wenn man gereifte Weine kauft. Es ist zwar verlockend, gereifte Weine auf Börsen, von Auktionshäusern oder auch von Privatleuten zu kaufen, doch manche teuren Weine sind schon mehrfach um die Welt gereist und bei verschiedenen Auktionshäusern aufgetaucht. Andere Weine wurden ebenfalls bewegt, verlagert, befanden sich in Kellern, die etwa fortwährender Vibration ausgesetzt waren, standen zu lange in Regalen und damit im Licht, wurden in zu trockenen oder zu warmen Räumen gelagert oder aber Räumen, die wechselnden Temperaturen ausgesetzt waren. Daher macht es mehr Sinn, auf solche gereiften Weine zuzugreifen, von denen man weiß, dass der Händler oder das Weingut sie optimal lagern konnten. Immer mehr Weingüter gehen dazu über, eigene Reifekeller anzulegen, weil sie das Problem erkannt haben, dass immer weniger Kunden (auch Gastronomen) ihre Weine optimal lagern können oder sich nicht so viele Weine in den Keller legen wollen bzw. können. Es gibt noch wenige – bei uns sind es beispielsweise Remoissenet und Bussaco, die solche Weine anbieten.
Dritte Regel: Wer keinen sehr guten Lagerraum hat, sollte gereifte Weine kaufen.
Die dritte Regel wurde schon weitestgehend in der zweiten erklärt, und wir haben dazu schon mal einen eigenen Artikel verfasst. Nur so viel: Es lohnt sich nicht, teure Weine in Räumen zu lagern, die nicht dunkel, vibrationsfrei und weitestgehend frei von Fremdgerüchen sind, die keine hohe Luftfeuchte und parallel dazu keine Temperatur von weitestgehend konstant unter 16 °C, besser noch 14 bis 7 °C besitzen. Ein Hilfsmittel kann ein Weinkühlschrank sein, aber der platzt auch schnell aus allen Nähten, zumal auch Klimaschränke nicht gänzlich vibrationsfrei sind.
Vierte Regel: Trinken, was schmeckt, und herausfinden, was einem wirklich schmeckt.
Wenn ich Weine lagere, sollte ich wissen, was mir schmeckt. Ihr lacht? Die Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten, und Geschmäcker ändern sich zudem. Daher sollte man sich erstens dessen bewusst sein, wie gereifte Weine schmecken und ob man sie dann überhaupt mag; denn es ist gar nicht jedermanns Fall, Weine mit den oben genannten Tertiärnoten zu trinken. Es gibt viele Weintrinker, auch erfahrene, die die jugendliche Fruchtphase auch von großen Weinen vorziehen. Wenn man gereifte Weine mag, dann sollte man sich sehr wohl überlegen, welche Stile den eigenen Weingeschmack am wahrscheinlichsten überdauern. Dazu gehören möglicherweise die Klassiker, die schon immer kartonweise in den Kellern ihren Platz gefunden haben.
Fünfte Regel: Zum Reifen vor allem auf Klassiker setzen.
Zu den Klassikern, von denen man weiß, dass sie grundsätzlich gut reifen, gehören natürlich Weine aus Bordeaux und Burgund, aus dem Südwesten Frankreichs (Madiran) oder Kampanien in Süditalien (Aglianico), dem Napa Valley (Kalifornische Cabernets) oder dem Barossa Valley (Australische Shiraz) aus Süßweingegenden wie Banyuls und Maury, ferner Port, Madeira, Mosel etc., Klassiker der Rioja, Barolo und Barbaresco, aber auch Chianti. Außerdem zählen für uns auch Jahrgangschampagner dazu. Dabei können wir uns nur wiederholen, was die Klassiker angeht: Auch in klassischen Gebieten werden Weine nicht mehr unbedingt klassisch erzeugt. Ob ein modern vinifizierter Rioja, Barolo oder Bordeaux Cru, der stark extrahiert wurde und in kleine Barriques gepresst wurde, tatsächlich noch so gut reift wie früher, ist gar nicht so klar.
Wie gut Weine reifen, hängt natürlich zusätzlich auch von dem Jahr ab, in dem sie entstanden sind. Auch wenn die besten Weingüter praktisch in jedem Jahr sehr gute Weine erzeugen, so haben doch manche Jahrgänge ein größeres Potential als andere. Wer darüber Bescheid weiß, den findet man zum Beispiel in unserem Artikel über Weinkritiker. Manche Jahrgänge entwickeln sich dann allerdings wieder anders, als Kritiker zu Beginn gedacht oder es proklamiert haben.
Wie ist es mit sogenannten Naturweinen, von denen wir ja auch einige im Sortiment haben? Reifen sie gut? Da können wir nur sagen: Es kommt immer auf das Können des Winzers an. Weine mit sehr wenig Schwefel müssen nicht schlechter reifen als Weine mit viel Schwefel. Doch grundsätzlich gilt, dass Weine mit sehr wenig Schwefel viel früher zugänglich sind als solche mit viel Schwefel. Einen Raveneau aus dem Chablis möchten wir in jungen Jahren nicht trinken, auch wenn der Wein irgendwann einmal sehr gut sein kann, einen Chablis von Pacalet schon.
Sechste Regel: Wenn man schon Weine weglegt, dann aber bitte eine größere Menge.
Beim Bordeaux-Kauf gab es früher die klassische Regel, dass man von einem Wein immer drei Kisten kaufen sollte, eine Kiste, um die Entwicklung zu verfolgen und sich an das optimale Trinkfenster heranzuarbeiten, eine weitere, um das optimale Trinkfenster auszuschöpfen, und eine dritte, um sie zu verkaufen und das Geld in drei neue Kisten zu investieren. Das dürfte heute nicht mehr ganz so gelten; denn Weine aus hochgelobten Jahren wie 2009 oder 2010 sind heute weniger wert als damals, als sie erworben wurden. Doch zwei oder mindestens eine Kiste macht schon sehr viel Sinn. Denn die Entwicklung eines Weines zu verfolgen kann viel Spaß bereiten, und mal lernt sehr viel dabei. Außerdem ist es sehr enttäuschend, wenn man sich Weine als Einzelflaschen weggelegt hat, sich lange auf ihren Genuss gefreut hat und dann feststellen muss, dass sie schon müde sind.
Siebte Regel: Die unterschiedlichen Phasen eines Weines sollten Beachtung finden.
Der Erwerb der ersten Kiste gemäß Regel sechs dient dazu, Regel sieben in die Tat umzusetzen. Ein Wein unterliegt einer Entwicklung. Sie beginnt mit der Fruchtphase, wenn die Polymerisation noch nicht wirklich begonnen hat. Alles wirkt frisch und saftig, die Frucht springt einem ins Gesicht. Das kann einem auch bei Weinen passieren, die sehr lagerfähig sind, bei Jahrgangsport zum Beispiel, auch bei Burgunder Grand Cru oder Bordeaux Grand Cru. Wenn die Weine auf den Markt kommen, kann die Frucht so klar und saftig sein, dass sie das noch harsche Tannin komplett integriert und vergessen lässt. Kurze Zeit später kann der Wein in eine Verschlussphase eintreten, in der er kaum noch etwas von sich preisgibt. Da können auch große Weine müde und einfach wirken, dann aber nach fünf bis zehn Jahren – ja, so lange kann das dauern – wie ein Schmetterling nach der Verwandlung erstrahlen. In der Reifephase entwickeln sich dann zunehmend mehr tertiäre Aromen, bevor diese dann in die Abbauphase übergehen, wenn das Plateau de maturité erreicht ist. Daher aber schnell ran an den Rest; denn besser wird der Wein dann wirklich nicht mehr.
Ihr seht, nichts im Leben ist einfach, auch nicht der optimale Genuss gereifter Weine. Vieles dabei ist ein Vabanque-Spiel. Unserer Meinung nach wird tendenziell zu viel Gewese um das Reifen von Wein gemacht. Und doch, wenn große Weine auf den Punkt gereift sind, können sie unglaublich faszinierend sein und für jede Menge Glückshormone sorgen. Letztlich kann man nur für sich entscheiden, ob man Weine in den Keller legt und wie man damit umgeht. Man kann interessante Beobachtungen machen, wenn man sich mit dem Thema befasst, und man kann viel Demut und Respekt lernen.