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Was ist eigentlich grosser Wein?

Wenn man in Nachschlagewerken und Lexika nachschaut, findet man unter dieser Begrifflichkeit nichts. Wenn man „Großer Wein“ in Suchmaschinen eingibt, dann landet man bei „Groszer Wein“ (ein Markenwein aus Österreich), „Grand Cru“ oder „Großes Gewächs“. Der Begriff ist nicht wirklich definiert. Wir können aber zunächst einmal das Ausschlussprinzip verwenden. Großer Wein hat nichts mit Flaschengröße zu tun, das versteht sich von selbst. Großer Wein ist keine Dutzendware und kann nicht unendlich skaliert werden. Werden große Weine von Kritikern als solche ausgelobt und hängen wir uns an ihre Meinungen an? Sind es Punkte von Robert Parker, James Suckling und anderen, die große Weine definieren? Wenn gleich mehrere dieser Kritikerkoryphäen 98, 99 oder 100 Punkte geben, dann kann das durchaus ein Hinweis darauf sein, dass es sich um einen außergewöhnlich guten Wein handelt. Wenn das bei mehreren Jahrgängen passiert, dann ist die Chance, dass dieser Wein per se als großer und begehrenswerter Wein angesehen wird, ungleich größer.

Viele dieser konstant hoch bepunkteten Weine stammen aus Gebieten, die schon vor langer Zeit eine Qualitätspyramide etabliert haben, in der das Potential für Größe festgeschrieben wurde. Im Burgund definiert sich diese über die Kategorie des „Grand Cru“. Diese Definition bezieht sich jedoch nicht auf einzelne Weine, sondern auf Lagen, die das Potential von Größe besitzen. Ähnliches gilt für Grand Cru-Orte in der Champagne, Grand Cru-Lagen im Elsass oder auch für die VDP.Große Lagen in Deutschland. Anders verhält es sich im Bordelais. Mit der berühmten Klassifikation von 1855 hat man damals die besten Weingüter im Médoc, Graves und Sauternes in verschiedene Stufen so genannter „Grand Cru Classé“ eingeteilt. Solche gibt es seit 1955 auch für St.-Émilion, wobei die Klassifikation dort alle paar Jahre wieder überarbeitet wird, während die im Médoc seit 1855 quasi unverrückbar feststeht.

Bei Klassifikationen spielen Herkunft, Boden und Mikroklima immer eine Rolle. Aber auch Tradition, Historie, Weingut und Ausbau. Natürlich wird über den Sinn und die Aktualität immer wieder gestritten, weil sie eben von Menschen gemacht wurden.

Doch zur Herkunft – oder nennen wir es ruhig „Terroir“ – gehören auch die klimatischen Bedingungen eines spezifischen Jahres und – ganz entscheidend – auch das Können des jeweiligen Winzers. Nicht jedes Jahr bietet die Voraussetzungen für einen sehr guten oder gar großen Wein und nicht jeder Winzer kann ein Terroir voll ausschöpfen, hat das passende Bauchgefühl oder schlicht den Anspruch, große Weine zu erzeugen.

Es sei noch einmal betont: Die Größe eines Weines definiert sich nur in Teilen über die Herkunft. Mindestens ebenso wichtig ist die Wahrnehmung eines Weines im Markt. Manchmal werden Weine in Zeiten von Social Media schnell „hochgejazzt“ und fallen dann wieder. Weingutsnamen wie Lafite, Latour oder Haut-Brion hingegen haben eine lange Halbwertzeit, da die Qualität auf höchstem Niveau sehr konstant ist und mit der Zeit durch hohe Investitionen noch zugenommen hat. Andererseits gibt es auch in der Weinbranche Moden, die dazu führen, dass manche Gebiete hier und da weniger angesagt sind als andere. Bordeaux ist aktuell vielleicht nicht ganz so angesagt, wie es früher einmal war. Auch berühmte Châteaux sitzen teilweise auf großen Beständen, ringen um geeignete Distributoren oder versuchen, ihre Weine rar erscheinen zu lassen, obwohl sie es gar nicht sind. All das ändert natürlich nichts an der potentiellen Qualität eines Weines. Aber wenn eine ganze Region per se als aktuell nicht sonderlich attraktiv angesehen wird, genießen auch einzelne Weine von dort meist weniger Aufmerksamkeit.

Dürfen es noch ein paar Punkte mehr sein? Auch wenn das Hamburger Urgestein „Aale Dieter“ nicht mit Punkten handelt, so sind die Publikationen und deren Bewertungskriterien sehr unterschiedlich.

Apropos Bordeaux … natürlich spielen noch mehr Komponenten eine Rolle bei der Einschätzung eines Weines. Es ist das Setting, die Umgebung, das Licht und die Wärme, ein Rauschen der Wellen im Urlaub oder die Person, mit der man den Wein trinkt. Da gibt es die berühmte Anekdote von Philippe de Rothschild, der mal gefragt wurde, was die beste Flasche Wein in seinem Leben gewesen sei und antwortete, dass es eine gewesen sei, an deren Namen er sich zwar nicht erinnere, wohl aber an das Tête-à-Tête, während dem sie geleert worden sei. Hier wird allerdings auch offensichtlich, dass die „beste“ Flasche nicht unbedingt die „größte“ sein muss und beides meist wenig miteinander zu tun hat. Eine Flasche Chiaretto kann an einem Abend am Gardasee der perfekte und beste Wein sein, der aber zuhause im regnerischen Hamburg absolut nichts sagend sein wird.

Auch die Preisbildung hat einen Einfluss auf die wahrgenommene Größe eines Weines. Vor allem die des Sekundärmarktes und damit jenes Marktes, auf dem Weine wiederverkauft werden. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie Hendrik mir erzählt hat, dass die mittlerweile sehr gesuchten Weine von Clos Rougeard aus Saumur einst wie Blei im Keller des Louis C. Jakob lagen, als er dort Sommelier war. Er war damals von der Größe der Weine überzeugt, konnte aber kaum jemand anderen überzeugen. Als er das Restaurant verließ, kaufte er die Weine aus dem Keller, weil sie kaum je jemand bestellt hatte. Bernd Kreis, Weinhändler in Stuttgart und Importeur der Weine, hat sie noch vor zehn Jahren teilweise mit Preisabschlägen ausverkauft, wenn der neue Jahrgang kam. Kosten pro Flasche? Damals zwischen 30 und 60 Euro. Heute werden die besten Weine auch mal für 500 Euro auf dem Sekundärmarkt verkauft. Hat man auf Clos Rougeard große Weine erzeugt? Ganz sicher, aber ganz sicher auch nicht durchgängig. Aber darauf kommt es bei diesem Phänomen auch nicht mehr an. Noch aberwitziger ist es mit Weinen aus dem Burgund. Einfache Aligoté von gehypten Winzern werden teils für mehrere tausend Euro verkauft. Und Weingüter wie die Domaine de la Romanée Conti versuchen, dem Irrsinn einen Riegel vorzuschieben. Sie personalisieren jede einzelne Flasche und verlangen von ihren Kunden, ihnen nach dem Genuss des Weines ein Bild der zerstörten Flasche samt aufgedruckter Nummer zu schicken. So wollen sie verhindern, dass die Weine noch mehr zum Spekulationsobjekt verkommen. Tut man das nicht, bekommt man keine Zuteilungen mehr.

Haben wir uns dem großen Wein nun angenähert? Ja, ein Stück weit schon. Die Weine der Domaine de la Romanée Conti, kurz DRC, haben auch bei mir Spuren im Gedächtnis hinterlassen. Ich habe von ihr bereits große Weine getrunken und ich werde nie den Moment vergessen, als ich einen 2001er DRC Romanée-St.-Vivant 2001 neben einem 2001er Echezeaux Grand Cru von Henri Jayer im Glas hatte. Blind verkostet war das umwerfend und unvergesslich, genauso wie manch andere Weine an einem für mich legendären Abend im Februar 2019, wo auch eine Scharzhofberger Spätlese 1983 und ein Portwein von Niepoort von 1863 auf dem Tisch standen. Warum ich das erwähne? Ich möchte hier nicht mit Namen prahlen, sondern einfach nur sagen, dass diese Weine, obwohl ich im Laufe der letzten fünf Jahre viele Weine verkostet habe, immer noch präsent sind. Es sind Weine, die bleiben und die mich damals schon, obwohl man sie blind eingeschenkt hatte und ich die Namen eben nicht kannte, direkt berührt haben.

Ob die Flasche zur Geburt der Tochter oder zum eigenen Geburtsjahr getrunken wurde. War sie ein besonderes Geschenk eines Lieblingsmenschen. Oder war es doch die, die man mit seinen besten Freunden gelenzt hat? Der Augenblick und die Gesellschaft machen den Wein erst zu etwas besonderem.

Kürzlich gab es bei Wein am Limit eine Verkostung mit dem Besitzer des Bussaco-Hotels, Alexandre de Almeida, und dem Macher dieser legendären Hausweine des Hotels, Antonio Rocca. Die Weine, die seit den 1920ern bis vor rund 15 Jahren den Gästen des Hotels vorbehalten waren, werden erst dann veröffentlicht, wenn man sie für „auf den Punkt“ hält, wobei dieser Punkt sich zur Linie einer jahrzehntelangen Entwicklung ausdehnt. Diese Weine mussten niemals etwas beweisen, weil man sie nicht für einen von Punkten und Meinungen dominierten Markt gemacht hat. Sie sollten nur sehr gut sein. Und sie sind es bis heute. An jenem Nachmittag waren zwei Weine dabei, eigentlich sogar drei, die ich gerne mit nach Hause genommen und über Stunden oder Tage hinweg weiter probiert hätte. Denn schon ein kleiner Schluck hat mich berührt und gefesselt.

Der Besuch von Alessandre de Almeida und Antonio Rocca von Bussaco im WaL HQ Anfangs 2024 war auf alle Fälle ein unvergessliches Erlebnis mit einigen großen Weinen. Auch das macht den Unterschied: die Menschen hinter dem Wein zu wertzuschätzen und wofür sie passioniert leben.

Im Preiseinstiegsbereich findet man keine großen Weine. Aber um Größe zu erlangen, müssen Weine definitiv nicht zwingend mehrere hundert Euro kosten. Manchmal erreicht man den Zustand des vollkommenen Weinglücks auch deutlich günstiger und auch aus Gebieten, die keine Grand Cru-Tradition haben und von denen man es nicht erwartet. Was diese Weine eint und für mich „groß“ macht, ist ihre perfekte Balance zwischen Finesse und Eleganz einerseits und Bodenständigkeit und Erdung andererseits. Es sind Weine, die nicht so poliert sind wie englisches Silber im Landhaus des Königs, sondern einen „Sweet Spot“ besitzen, also das Unperfekte, das die Perfektion erst so richtig unterstreicht. Es sind Weine, die ihre Herkunft mit so etwas wie einer universellen Weinwahrheit verbinden, die weit über den Ort der Herkunft hinausragt. Es sind Weine, die niemals belanglos sind und in sich so stimmig, dass selbst ein völlig unerfahrener Weintrinker die Größe intuitiv erkennt. Es ist wie mit der Musik. Selbst wenn man kein ausgewiesener Fan von Johann Sebastian Bach oder Friedrich Händel sein mag und ansonsten eher Pop-Musik hört, wird man sich bestimmten Stücken, die seit Jahrhunderten als Meisterwerke angesehen werden, nicht entziehen können. Wenn man sich auf sie einlässt, berühren sie einen immer wieder im innersten.

Autor: Christoph Raffelt

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