Kommentar

Zu viel Alkohol im Wein, ein Drahtseilakt?

„und die Jahre ziehen ins Land und wir trinken immer noch ohne Verstand …“, so heißt es in der Hymne der Düsseldorfer Punkrockband „Die Toten Hosen“. Die Debatte über niedrige Alkoholwerte im Wein ist genauso anstrengend, wie die von diesen peniblen Nachfragern bei Verkostungen in den 90igern, die ständig nach Säure- und Restzuckergehalt gefragt haben. Darüber hinaus kam meist kein konstruktiver Beitrag von diesen – ich unterstelle mal – Wichtigtuern.

Wein ist meiner Überzeugung nach etwas Lebendiges, etwas, das Empathie und Erfahrung braucht, um es zu verstehen und nichts für zahlenverliebte Statistiker. Ja, ich höre schon erste Stimmen, die an mein Kalkül appellieren: Man darf sich nicht auf sein Bauchgefühl verlassen. Bullshit! Natürlich kann man das. In so vielen Dingen des täglichen Lebens verlassen wir uns auf unser Bauchgefühl. In der Liebe sogar auf den ersten Blick, bei Geschäften vertrauen wir auf unsere Urteilskraft und überhaupt sind Bauchschmerzen dabei nie ein gutes Omen.

 

Bauchgefühl
Das Bauchgefühl ist eines der wichtigsten und besten Tools des Menschen beim Treffen von Entscheidungen

 

Warum um alles auf der Welt sind wir so unfassbar etikettengläubig? Wenn da 14,5 % vol. auf der Flasche steht, dann wird von einigen Zeitgenossen der Inhalt voreilig als untrinkbar stigmatisiert. Um es gleich klarzustellen, auch bei Wein am Limit stehen wir auf leichtfüssige, saftige Weine – aber nicht bedingungslos. Sicher sind diese Weine ein erfreulicher Trend, ja, sogar mehr als das. Denn sie führen zu einem Paradigmenwechsel und zu mehr Trinkspass. Vor einigen Jahren, als der Durst nach überkonzentrierten säurearmen, holzvernagelten Angeberweinen groß war, musste eine Gegenbewegung her. Einer ihrer Anführer war seinerzeit und auch heute noch der berühmte Sommelier Rajat „Raj“ Parr aus dem Restaurant RN 74 in San Francisco. Das war in 2011. Heute ist Parr Winzer, der sehr elegante Weine unter seinem eigenen Label keltert. Bei ihm sollte es schon damals kein Pinot Noir über 13,5 % vol. auf seine Weinkarte schaffen. Im in weiten Teilen heißen Kalifornien mit seiner Nähe zu Disneyland, Hollywood & Co. war dieses Statement ein vieldiskutiertes Politikum.

In 2016 haben Raj Paar die Winzerin Jasmine Hirsch und andere dann die Bewegung „In Pursuit of Balance“ gegründet. Diesem losen Zusammenschluss gehören auch einige Weingüter aus der Wein-am-Limit-Familie wie Hanzell und Matthiasson an. In erste Linie geht es diesem Verein darum, knackige, frische Pinot Noirs und Chardonnays ohne Speerholzgeschmack mit geringeren Alkoholwerten abzufüllen, als es früher üblich war. Sie wollten und wollen – damals wie heute – ein Bewusstsein für einen anderen Weinstil, ganz undogmatisch und ohne Ideologie schaffen. Der Focus ist auf zwei Sorten gesetzt und ich glaube, seitdem ist etwas „lost in translation“ gegangen; denn der Ansatz der Bewegung wurde verallgemeinert. Und Verallgemeinerungen durch die breite Öffentlichkeit haben noch nie wirklich weitergeführt.

 

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„In Pursuit of Balance“ – Winzerin Jasmine Hirsch und Tausendsassa Rajat Parr (Sommelier & Winzer) sind Gründer dieser Bewegung.

 

Das Wort „Balance“ finde ich in Bezug auf den Alkoholwert auch tatsächlich irreführend. Vielleicht hat er sich aber auch nur komplett verselbstständigt; denn die Trinkbarkeit und den Genuss eines Weines nur über eine Zahl zu definieren, ist meiner Ansicht nach kompletter Unfug. Es gibt Rebsorten, Klimazonen und Weinstile, die einfach mächtig und reichhaltig sind. Ein Nachteil, den diese Weine in ihrer geschmacklichen DNA tragen ist: Sie platzen schnell in ihrer intensiven Fruchtigkeit aus ihren Konturen und können völlig diffus und übersättigt schmecken. Doch es gibt genug Möglichkeiten eine Balance zu erzeugen, z.B. durch eine rechtzeitige, nicht überreife Lese, einen biologischen Anbau, der zu gesundem ausgewogenen Lesematerial führt, den Verzicht auf übermäßigen Ausbau in neuem Holz, geringere Erträge, das Vergären mit Stielen und Stängeln, das zu mehr Phenolik führt, den Verzicht auf aggressive Extraktion usw.

 

Mann mit Muskeln und angespanntem Bizeps
Ein Wein kann muskulös sein wie ein Schwergewichtler. Doch sind Weine, die wie die Muskeln dieses Sportlers definiert sind, mehr nach unserem Geschmack

 

Es gibt so viele natürliche Hebel, an denen der Winzer drehen kann, um ein muskelbepacktes Schwergewicht – aber eines mit Definition – abzufüllen. Leider machen, schaffen oder wollen das immer noch nur wenige; denn die Nachfrage für die Opulenzbomben ist immer noch groß, sehr groß. Die Industrieplörren sind sowie durch Refraktionierung u.ä. Verfahren so hingepimpt, wie der Verbraucher es haben will. Vermeintlich zumindest, aber das Vordergründige war schon immer leichter zu verkaufen.

Auf der anderen Seite darf der deutlich erkennbare Trend zu mehr Finesse und weniger Alkohol nicht dazu verleiten, die Weine grün oder sauer zu lesen oder sogar den Wasserschlauch zu benutzen (was in einigen Teilen der Welt erlaubt ist). Sauer macht zwar lustig, aber wer will schon unreife Früchte essen oder trinken? Die Versuchung ist groß, auch hier zu pimpen, sollte diese Weinrichtung noch mehr Freunde finden.

Balance ist nicht die Frage eines statistischen Wertes, sondern der Ausdruck von Ausgewogenheit. Dabei kommt es beim Wein auf den Kontext seiner Gewichtsklasse an. Mich interessiert nicht eine ungenaue Zahl auf dem Etikett. Denn auch hier kann es durch Auf- oder Abrundung bis zu 1° Alkohol, oder sogar zu einer höheren Abweichung kommen. Traue also keiner Statistik, die Du nichts selber gefälscht hast.

Alkohol im Wein stört mich nur dann, wenn ich ihn rieche, schmecke oder übermäßig spüre. Also erheben wir unser Glas auf den Genuss, weniger „schnacken“ und mehr gute Weine mit viel Gefühl trinken. Wer Wein wegen des darin enthaltenen Alkohols vorschnell beurteilt, der (dis)qualifiziert sich zum Wirkungstrinker, mehr nicht. Da hilft auch der kennerhafte Blick aufs Etikett kaum weiter.

PS: Ein kleiner Rat zum Schluss. Wer seinen Pinot Noir mit 15 Volt trinkt, der sollte sich vorher noch seine Jogginghose anziehen. Es sei denn er hat nicht aufs Etikett geschaut!

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