Mineralität
Wohl kein Begriff hat in den letzten dreissig Jahren in der Weinwelt eine so steile Verwendungskurve hingelegt wie die Mineralität und das dazu passende Adjektiv mineralisch. Was damit jeweils genau gemeint ist, das ist – nunja – kompliziert. Mit dem Begriff ist’s ein wenig wie mit dem Charisma. Eine genaue wissenschaftliche Definition gibt es nicht. Aber jeder, der das schon einmal erlebt oder geschmeckt hat, weiß sofort, was gemeint ist.
Im Idealfall jedenfalls. Schlimmstenfalls aber wird der Begriff gebraucht wie die legendäre Piemontkirsche oder die Byzantiner Königsnuss: als weitgehend substanzlose Nebelkerze für’s Marketing. Ein Schicksal übrigens, dass die Mineralität mit einem zweiten Begriff teilt. Dem ist sie auch durch häufige gemeinsame Nennung eng verbunden: nämlich dem —>Terroir. Weil sie so zuverlässig positive Assoziationen wecken wie sonst nur noch Einhörner und Glücksbärchis, haben es beide inzwischen ins Marketing für den Weinmainstream geschafft. Eine echte Bedeutung haben sie dort leider selten.
Dabei scheint die Lage auf den ersten Blick eigentlich recht simpel: Neben Süße, Säure, Frucht und Alkohol gibt es geschmackliche Komponenten, die eng mit dem Boden verbunden sind, auf dem der Wein gewachsen ist. Riesling beispielsweise zeigt auf Sandstein-, Schiefer- oder Lehmböden jeweils einen unterschiedlichen Charakter. Umgekehrt teilen viele Weine, die auf Kalkböden gewachsen sind, ähnliche Geschmacksmerkmale.
Doch sobald man näher hinsieht, wird es sofort unübersichtlich. Denn was unsere Nase da wahrnimmt, kann gar nicht „mineralisch“ sein. Minerale sind geruchsfrei – und zwar ausnahmslos. Und auch das Meiste von dem, was wir schmecken, ist nach chemischen Standards organisch. Schmeckbare Mineralik ist eigentlich nur die gewisse Salzigkeit, die viele ausgesprochen mineralische Weine zeigen. Am ehesten kann man Mineralität in den Zusammenhang mit Säuren und pH-Werten bringen, die es im Wein gibt. Jeder Boden liefert andere Säuren in den späteren Wein. Und manche wirken so tonisch, so spannungsgeladen, als würde man eine 9V-Blockbatterie an die Zunge halten – was wahrscheinlich jeder von uns als Kind mal gemacht hat. Mineralität ist vor allem Vibration und Energie.
Und unterm Strich ist Mineralität aber eine Analogie. Der Versuch, einige wichtige Faktoren, die einem Wein Persönlichkeit und Klasse verleihen, in einen Begriff zu fassen. Dass viele dieser Faktoren ähnlich viel mit der Machart des Weines zu tun haben wie mit dem Boden, auf dem sie gewachsen sind, ist letztlich völlig egal. Jedenfalls solange alle wissen, was damit gemeint ist.
Womit wir wieder bei dem Vergleich vom Anfang angelangt wären. Der nicht zuletzt auch deshalb so gut passt, weil eine ausgeprägte Mineralik Wein eben sehr oft genau das verleiht: echtes Charisma.